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ZOMBIE INC.

Chris Dougherty



Lesermeinungen


»Hier ist eine Perle des Genres zu finden. Tolle Charakter mit einer originellen Welt mit Zombies, gute Story!«
[Lesermeinung]

»Sollte irgendwann die Zombieapokalypse kommen und genug Menschen überleben, gäbe es sicher eine Zombie Inc. ! Mal ganz etwas Anderes, fand ich toll!«
[Lesermeinung] 

SECHS

Zombie Inc. Firmenhandbuch
§6: Richtlinie zu bezahltem Urlaub (BU)
(Stand: 27.06.41)

Zombie Inc. (nachstehend «ZI» genannt) vertritt einen großzügigen und demokratischen Ansatz hinsichtlich Arbeitnehmerurlaub*. Die Anzahl der Tage ist proportional zur Beschäftigungsdauer. Ein Folgejahr der Anstellung berechtigt den Arbeitnehmer zu vier (4) Tagen BU (bezahlter Urlaub) zu seiner freien Verfügung.** Zwei Folgejahre der Anstellung berechtigen den Arbeitnehmer zu sechs (6) Tagen BU (bezahlter Urlaub) zu seiner freien Verfügung.** Drei Folgejahre der Anstellung berechtigen den Arbeitnehmer zu acht (8) Tagen BU (bezahlter Urlaub) zu seiner freien Verfügung.** Jedes weitere Folgejahr der Anstellung berechtigt den Arbeitnehmer zu einem (1) zusätzlichen, bis zu maximal vierzehn (14), Urlaubstagen, unabhängig von der Beschäftigungsdauer. Der BU wird zu jedem Jahrestag eines Arbeitnehmers neu berechnet und unbeanspruchte Zeit wird nicht übernommen. URLAUBSTAGE WERDEN WEDER NACH DEM ERSTEN TOD HINZUGEFÜGT NOCH SIND SIE AUSZAHLBAR ODER KÖNNEN POSTHUM VERMACHT WERDEN.
BU wird FÜR JEDEN EINZELNEN ARBEITNEHMER berechnet und zugesprochen und kann weder verkauft noch umverteilt werden.
*BU ist zu jeder Zeit auf nicht mehr als zwei (2) zusammenhängende Tage begrenzt und bedarf der vorherigen schriftlichen Genehmigung durch den direkten Vorgesetzten sowie den für die Abteilung verantwortlichen Mitarbeiter der Personalverwaltung.*** BU kann nach freiem Ermessen des Arbeitnehmers genommen werden, ein direkter Vorgesetzter kann jedoch jederzeit genehmigte freie Tage widerrufen, sofern es von ihm für notwendig erachtet wird.**** Im Falle schwerer Krankheit und/oder Arbeitsunfähigkeit aufgrund eines Unfalls kann die Zustimmung nachträglich eingeholt werden, sobald der Arbeitnehmer seine oder ihre Pflichten wieder aufgenommen hat. Jedoch begründen fünf (5) oder mehr aufeinander folgende Fehltage ein Zurücksetzen der anrechenbaren Beschäftigungsdauer.
**Urlaubstage dürfen nicht ohne vorherige schriftliche Genehmigung des direkten Vorgesetzten genommen werden und bedürfen der Einreichung des Urlaubsantrags (mindestens) drei Wochen vor der geplanten Urlaubszeit. Sollte es zu einer notfallbedingten Fehlzeit kommen (vgl. Abschnitt B) kann die Zustimmung nachträglich eingeholt werden, sobald der Arbeitnehmer seine oder ihre Pflichten wieder aufgenommen hat. Jedoch begründen fünf (5) oder mehr aufeinander folgende Fehltage ein Zurücksetzen anrechenbarer Beschäftigungsdauer.
***Zu Schwangerschaften lesen Sie §18 des Zombie Inc. Handbuches mit dem Titel «Schwangerschaft».
****Angestellte können den Entscheidungen ihres direkten Vorgesetzten bezüglich des Widerrufs bereits genehmigter freier Tage durch Kontaktieren ihres Personalsachbearbeiters widersprechen. Die Personalverwaltung entscheidet hinsichtlich widerrufener Urlaubszeit innerhalb von fünf bis elf Tagen.

***

Carl stöhnte und richtete sich im Stuhl auf. Er schirmte seine Augen gegen die durch das Flachglasfenster herein scheinende Sonne ab und fluchte. Da sein Magen revoltierte, krabbelte er zu dem kleinen Gästebad beim Flur, wo er sich übergab, bis außer Galle nichts mehr aus ihm heraus kam. Er drückte sich von der Toilettenschüssel ab und sank gegen die Wand.
  Von seiner Position auf dem Boden aus griff er zur Dusche und stellte sie an. Es war verlockend, sich krankzumelden, aber was dann? Was würde er mit dem Tag anfangen? Ihn grübelnd verbringen?
  Drauf. Geschissen.
  Dampf waberte um den Duschvorhang herum und Carl stolperte auf die Füße und kämpfte sich aus seinen Kleidern. Er musste aufstoßen, als sein Magen anfing sich um sich selbst zu drehen, als ob er sich in einem Säurebad marinierte. Als er die Dusche betrat, stieß es ihm wieder auf. Mehr Galle kam ihm hoch, heiß und beißend, und füllte ihm die Kehle. Er spie sie nahe des Abflusses auf den Boden der Dusche. Dann beugte er sich unter den Wasserstrahl und schloss die Augen.
  Scheiße.
  Er musste aufhören, nachts zu trinken.
  Er sollte sich einfach krankmelden. Seine Hand schwebte in der Nähe seines Ohrs, dazu bereit, es anzutippen, doch dann zögerte er. Heute war erst Dills zweiter Tag. Falls Carl nicht auftauchte, würden sie sie in eine andere Abteilung schicken, vielleicht in den Verkauf, und wer wusste dann schon … Vielleicht würde sie sich dazu entschließen, es nicht weiter als Gutachterin zu versuchen. Vielleicht würde sie beschließen, dass Carl ein zu großes Arschloch war und der Job zu gefährlich.
  War der Job zu gefährlich?
  Na ja, es war nicht der sicherste Job bei ZI, aber Forschung und Entwicklung war wahrscheinlich schlimmer. Diese Typen spielten den ganzen Tag lang mit Zombies.
  Ein plötzliches Summen an Carls Ohr erschreckte ihn. Seine Finger, ohnehin schon so nah, stellten den Anruf durch, obwohl er es vorgezogen hätte, den Anrufbeantworter rangehen zu lassen, den er nach dem Duschen hätte abrufen können. Nach einem kurzen, justierenden Summen erklang eine automatisierte Stimme. «Hallo … Carl … hier ist die Nachrichtenzentrale … des Assessments … Ihre Mailbox enthält … eine … als … wichtig … markierte Nachricht. Nachricht jetzt abspielen … Carl?»
  «Ja.»
  In der Verbindung summte es wieder, dann beruhigte sie sich. «Hey, Carl, hier ist Aaron. Hör mal.» Das darauffolgende stille Zögern dauerte so lange, dass Carl glaubte, er hätte den Anruf vielleicht verloren. Er hob gerade seine Hand, um sein Ohr erneut zu berühren, als Aarons Stimme wieder erklang. «Ich hab etwas Seltsames von gestern entdeckt. Etwas in der Überwachung. Komm zu mir, sobald du da bist, okay?»
  Die mechanisierte Stimme schaltete sich wieder ein. «Nachricht wiederholen, zurückrufen oder Verbindung trennen?»
  «Verbindung trennen», sagte Carl und stellte das Wasser ab. Er fühlte sich geringfügig besser und sein Magen drehte keine Loopings mehr, aber er würde etwas essen müssen. Außerdem fand er es nicht reizvoll, als Allererstes bei F&E vorbeizuschauen. Die ganze Etage roch furchtbar.
  Nach Verwesung.

***

Carl fuhr langsam an den Reihen von Menschen vorbei, die zu Fuß aus der Inneren unterwegs waren. Er studierte ihre Rücken, konnte Dill aber nicht unter ihnen erkennen. Alle hatten sich des Windes wegen in ihre Mäntel gewickelt und die Schultern hochgezogen. Der Tag war grau und sogar noch kälter als der gestrige.
  Carls Blick zog an den Fußgängern vorbei und weiter zu den braunen, windzerzausten Feldern, die das ZI-Gebäude bis hin zu dessen rissigen und verfallenden Parkplätzen säumten. Draußen sah es überall schmucklos und verlassen aus. Sofern es die Sicherheit nicht erforderte, wurde dem Äußeren eines Gebäudes wenig Beachtung geschenkt.
  Er erblickte Dill und drückte das Lenkrad langsam nach hinten, um den Geländewagen abzubremsen. Er würde anhalten und ihr anbieten, mitzufahren, aber nur, weil Aaron dringlich geklungen hatte (irgendwie dringend zumindest), und Carl wollte nicht warten müssen, bis Dill den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt hatte.
  Genau in diesem Moment drehte sie sich zu der Person neben sich – ein großer junger Mann, dessen Gesicht Carl hinter dem aufgestellten Kragen seines Mantels nicht sehen konnte – und lächelte. Der Mann legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich.
  Carl erlaubte seiner Hand, das Lenkrad nach vorne zu drücken; er gab langsam neben dem Paar Gas. Sein Blick wanderte zum Seitenspiegel. Er betrachtete den Kerl mit dem Arm um Dill, aber der hatte ihr mittlerweile sein Gesicht zugewandt und Carl konnte seine Züge nicht erkennen. War er ein guter Mensch? Was tat er bei ZI? War es Dill ernst mit ihm? Carl beschleunigte. Er würde sie nach ihm fragen müssen.
  Es interessierte ihn nur, weil er nicht zu viel in Dill investieren wollte, falls sie nicht vorhatte, am Ball zu bleiben, falls sie nicht wirklich am Assessment interessiert war. Seine Sorge galt tatsächlich mehr sich selbst als ihr.
  Ach, ist das so?, flüsterte sein Verstand. Carl riss das Lenkrad herum und fuhr auf den ZI-Parkplatz. Er ignorierte die empörten Aufschreie der Fußgänger, die sein plötzliches, scharfes Wendemanöver aufgeschreckt hatte.

***

Dill sah auf, als eine Handvoll Menschen aufschrien und Reifen auf dem alten Asphalt quietschten. Es war ein Gutachter-SUV, aber sie konnte den Zulassungscode auf der Seite und dem Heck nicht erkennen. Konnte das Carl sein, der da wie ein Verrückter fuhr? Nachdem er sie gestern wegen ihres Fahrstils «Andrea» oder wie auch immer genannt hatte? Sie schüttelte den Kopf und schnaubte. «Heuchler», murmelte sie vor sich hin.
  «Was?», fragte Denny, aber er klang abgelenkt, da er die Innentaschen seines langen Mantels durchwühlte. «Scheiße, ich weiß, dass ich die Papiere hier irgendwo rein getan hab.»
  Sie tätschelte die unterste Tasche, diejenige, die gegen sein Knie schlug. «Hier unten», sagte sie. «Innentasche.»
  «Danke», sagte er. «Das wäre ein riesiger Reinfall geworden. Ich werde …» er sah sich verstohlen um, «… ich werde heute die Waschräume im vierten Stock bekleben. Morgen im fünften. Es allen immer wieder einhämmern.»
  «Mm-hmm», machte Dill. Sie hatte die an ihrer Seite hängende Armbrust nach vorne gezogen und zupfte an der Bogensehne. Es war seltsam, dass man diese kleinen Pfeile Bolzen nannte. Sie waren aus Karbonfaser hergestellt: kurz, widerstandsfähig, teuflisch spitz und effektiv. Das hatte sie gestern gesehen. Ein kleines Grinsen tauchte auf ihrem Gesicht auf, als sie sich erinnerte.
  «Es ist wichtig, dass wir hart zuschlagen, wenn wir eine neue Kampagne lostreten», sagte Denny. In seiner Stimme schwang ein Unterton des Tadels mit. «Es ist gefährlich, aber es ist auch wichtig – zu wichtig, um aufzuhören. Hörst du mir zu, Dill?»
  «Klar.»
  Sie hatten die Hälfte des Parkplatzes überquert und die enge Reihe der Fußgänger hatte sich aufgefächert. Sie waren gänzlich außer Hörweite der anderen Angestellten.
  «Dill, ernsthaft. Das ist wichtig. Das weißt du doch, oder? Du weißt, was ich alles schon aufs Spiel setze, indem ich einfach nur diese Flyer verteile?»
  Sie blickte zu ihm auf. «Auf welchem Stockwerk hast du gesagt, warst du gestern? Welche Toiletten?»
  «Im Foyer», sagte er und schluckte. Sein Blick wanderte von ihr weg und wieder zurück. «Ich hab's in der Mittagszeit getan. Warum? Hast du was darüber gehört?»
  Dill schüttelte den Kopf und lief weiter. Eine Sekunde hatte sie geglaubt … nur eine flüchtige Sekunde lang … dass er vielleicht gestern im dritten Stock gewesen wäre. Vielleicht hatte er gesehen, was da oben schief gegangen war, als der Alarm losging, aber davon hätte er ihr schon erzählt.
  Sie wünschte, sie könnte ihm von ihren gestrigen Erlebnissen berichten, davon, wie sie die Leben dieser beiden Wrangler gerettet hatte – na ja, vielleicht nicht wirklich gerettet, aber sie hatte ihnen geholfen; das hatten sie gesagt –, aber der Blick, mit dem Denny die Armbrust bedachte, war einer der Abneigung.
  «Ich wünschte, du müsstest dieses Ding nicht mit dir rumtragen. Es ist ein Symbol der Todeshierarchie. Eine Zurschaustellung unseres fehlinformierten Überlegenheitsgefühls über unsere Zombiebrüder», sagte er mit gerecktem Kinn. Er schien ihre Finger dabei zu beäugen, wie sie die Sehne streichelten. «Ich bin sicher, du hasst es auch.»
  «Oh, ja. Total», sagte Dill und ließ die Armbrust wieder an deren Platz an ihrer Seite rutschen. Nein. Sie würde ihm definitiv nicht davon erzählen können, wie sie den Zombie getötet hatte. Sie betrachtete seine verkniffenen Lippen und die rechtschaffene Neigung seines Kinns. Hatte er sich je mit einem Zombie konfrontiert gefunden? War er jemals wirklich in Gefahr gewesen?
  Sie begann sich zu fragen, ob die Menschen ihres Alters ein nicht ganz so gutes Verständnis von Zombies hatten, wie sie zu haben glaubten. Was sie betraf: Sie erinnerte sich nicht mal an die Jahre direkt nach der Seuche – die schlimmsten Jahre, laut der älteren Menschen. Sie war ein Baby gewesen. Denny genauso. Und ebenso die meisten Mitglieder von Z.A.M.S. Tatsächlich war der Großteil von ihnen sogar noch jünger, geboren, nachdem die tatsächliche Krise bereits vorbei gewesen war. Dill war nur einen Tag lang in ihrem neuen Job außerhalb der Mauern der ZI-Anlage gewesen, aber sie fühlte sich schon jetzt ein wenig dadurch verändert. Wann war Denny zum letzten Mal außerhalb der Anlage gewesen? Die jüngeren Leute in der Gruppe – waren die überhaupt jemals draußen gewesen? Das war unwahrscheinlich.
  Den Zombie zu töten war nicht so gewesen, wie einen Menschen zu töten. Er war nur ein Sack voller belebter Knochen und langsam verwesendem Fleisch gewesen. Seine Augen, das wenige, das sie gesehen hatte, waren leer gewesen. Nicht einfach nur frei von Gefühlen – sie hatten keinerlei Menschlichkeit gezeigt.
  Zum ersten Mal, seit sie mit siebzehn bei Z.A.M.S. aufgenommen worden war, verspürte Dill einen Anflug von Uneinigkeit mit den Zielen der Gruppierung. Aber wenn sie die verlöre, was hätte sie dann noch? Sie wäre wieder auf sich alleine gestellt.
  Die beiden näherten sich den Türen, wo Denny Dill ein letztes Mal fest mit einem Arm an sich drückte. «Ruf mich an, wenn du glaubst, dass wir uns zum Mittagessen treffen können, okay?» Er machte sich in Richtung Treppenhaus auf, zum vierten Stock, wo sich die Buchhaltung befand.
  Dill stand in der Eingangshalle und beobachtete, wie Denny durch die Türen verschwand. Er liebte sie. Sie war sich ziemlich sicher, dass er das tat. Sie trafen sich nicht mit anderen. (Ihr beiden «trefft» ja euch schon kaum, flüstert ihr Verstand, doch sie brachte ihn zum Schweigen.)
  Die Gruppe war wie eine Familie, oder wie sie sich vorstellte, dass eine Familie gewesen sein musste. Damals.
  Carl irgendwie auch.
  Der Gedanke an Carl brachte ihr ihren Vater in Erinnerung.
  Ihr Vater – was ihm zugestoßen war – war der wahre Grund, warum sie Z.A.M.S. beigetreten war.

***

  «Wir müssen heute weiter raus. Wir haben eine Beschwerde von einem Kunden südlich von hier. Kein Notfall.» Carl redete, ohne aufzusehen. Sein Bereich der zweiten Etage war – wie die aller anderen Gutachter – weiträumig und mit einer Unzahl an Equipment gefüllt: Tablets, Aktenmappen, Bücher, Monitore, Waffen. Es war eine Feldstudie des organisierten Chaos. «Ich denke, wir sollten einen Wrangler mitnehmen. Die mögen diesen Kunden.» Er hielt inne, dachte nach und sah dann vom Tablet in seiner Hand auf. «Dill? Hörst du mir zu?»
  Ihr Blick war zum Fenster gewandert, kam jetzt aber zu Carl zurück.
  «Ja … Beschwerde, nach Süden, Wrangler», sagte sie.
  «Wir müssen erst hoch zur Drei und Aaron treffen. Er macht sich wegen irgendwas mit einem Überwachungsvideo von gestern ins Hemd.»
  «Was ist damit?»
  «Ich weiß es nicht; das ist es, was wir rausfinden werden», sagte er und betrachtete sie aufmerksam. Ihr Gesicht war wieder blass, aber seine eigenen Gedanken waren benebelt. «Geht's dir gut?»
  Sie nickte und rückte ihre Armbrust zurecht. Sie wirkte nervös. Möglicherweise beunruhigte es sie, nach Süden rausfahren zu müssen. Es war waldig da unten und wild in einem zutreffenderen Sinn, als sie das gestern von den Vororten gesagt hatte.
  «Machst du dir Sorgen?»
  «Wegen des Überwachungsvideos?»
  «Grundgütiger, Dill, nein. Ich meine nicht das verdammte Video. Reiß dich zusammen.» Carl massierte erst seine Stirn, dann seine Augen. «Tut mir leid. Hör mal, ich … ich hab ziemlich üble Kopfschmerzen und der Tag heute wird nicht einfach werden.» Als er Dill wieder ansah, war seine Sicht verschwommen. Er blinzelte, um sie wieder zu klären. «Willst du hier bleiben? Du könntest ein bisschen aufräumen oder so.» Er deutete auf den Arbeitsbereich.
  «Nein!» Dills Stimme war wie ein Messerstich in Carls Kopf. Er zuckte zusammen. «Tut mir leid», sagte sie. «Wollen Sie irgendwas? Eine Tablette oder so? Ich hol Ihnen eine aus dem Fünften.»
  «Nein, ich brauch nur etwas Wasser. Lass uns zur Forschung hochgehen und dann zusehen, dass wir uns auf den Weg machen.» Er rieb sich wieder über die Stirn. «Danke trotzdem.»
  «Ja, klar», sagte sie.
  Klang sie traurig? Er war schon wieder ein Arsch. Warum reizte sie ihn so sehr, besonders nach all seinen guten Entschlüssen von gestern?
  «Hör mal, wir nehmen die selben Wrangler von gestern mit, wenn sie Zeit haben, okay?»
  «Diejenigen, die glauben, mein Name sei Abby?»
  Carl schnaubte. Das Geräusch schallte quer durch das Treppenhaus, das sie jetzt betreten hatten. «Sie nennen alle Abby. Sogar mich. Und sie nennen einander Floyd.» Er schüttelte den Kopf und rieb sich wieder über die Augen. Er kümmerte ihn nicht, wenn sie blutunterlaufen waren. Dem Netzhautscanner war es egal. «Niemand weiß, warum. Außer ihnen selbst, und sie verraten es nicht.»
  Carl könnte schwören, dass er jedes Mal, wenn seine Netzhaut gescannt wurde, einen Hitzeimpuls spürte, obwohl sein Verstand wusste, dass die Technik keine Wärme führte. Die Tür zum dritten Stock glitt auf. Die Stimme des Ze-Listen/Speak-Systems sagte: «Willkommen bei Zombie Inc. Forschung und Entwicklung. Bitte nennen Sie den Namen der Person, die Sie erreichen möchten.»
  «Aaron Carmichael», sagte Carl gewohnheitsmäßig in Richtung der Decke. Es gab keinen wirklichen Operator für Ze-Listen/Speak, nur eine Art zentralisierten Intellekt. Aarons Name würde eine Benachrichtigung für ihn auslösen, ganz gleich, wo im Gebäude er sich befand.
  «Carl!» Aarons Stimme, nachhallend aufgrund einer Verzögerung. «Gib mir fünf Minuten. Ich bin draußen.»
  Carl sackte gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Fünf Minuten bedeuteten wahrscheinlich tatsächlich eher fünfzehn. «Draußen» bezog sich auf den großen Außenbereich hinter dem Gebäude, hinter etwas, das früher mal ein mehrstöckiges Parkhaus gewesen war. F&E war die einzige Abteilung mit Zugang zur Garage und dem dahinterliegenden Freigelände. Die Fenster zur Rückseite des Gebäudes waren der Geheimhaltung wegen geschwärzt worden. Einmal, während des Bowlens, als sie beide betrunken gewesen waren, hatte Aaron Carl erzählt, dass die Höhe der Parkebenen nützlich war. Carl hatte nicht gefragt, wofür.
  Sie warteten stumm. Carl war froh, dass Dill weder zapplig noch eine Quasselstrippe war. Hin und wieder öffnete er seine Augen einen Spaltbreit, um zu sehen, wie sie die Wartezeit hinnahm, und immer, wenn er hinsah, stand sie stockstill da und starrte den Flur hinab. Ihr Kiefer ver- und entkrampfte sich, aber das war alles.
  Sie hatte die nötige Geduld eines Gutachters. Das war eine Eigenschaft zu ihren Gunsten.
  «Carl, komm zu Tür Sechs.» Wieder Aarons Stimme.
  Carl drückte sich von der Wand ab und Dill folgte ihm. Sie hatte gute Instinkte. Soldateninstinkte. Carl schätzte das. Und außerdem fühlte sich etwas daran, sie im Rücken zu haben, richtig an.
  Ein Summen und ein Klicken deuteten ein aufschnappendes Schloss an. Als Carl die Tür aufdrückte, seufzte sie in ihren hydraulischen Angeln. Kalte Luft strich über die beiden hinweg, als sie einen blau beleuchteten Raum betraten.
  Dill legte ihre Hand über Mund und Nase und trat einen plötzlichen Schritt zurück. «Was zum Teufel?», fragte sie. Sie klang beleidigt, als ob ihr jemand einen unangebrachten und unlustigen Streich gespielt hätte.
  «Man gewöhnt sich dran», sagte Aaron, der hinter einer großen Säule auftauchte. «Ich merke es nicht mal mehr! Obwohl …» Er hielt die Aufschläge seines weißen Overalls hoch. «Ich habe den Verdacht, dass es sich in den Uniformen festsetzt. Gelobt sei die hauseigene chemische Reinigung.»
  Dill sah sich mit geweiteten Augen um. Der Raum war riesig. Die Wände waren mit großen Kunststoffröhren gesäumt, jede von ihnen zwei Meter hoch und oben und unten mit dickem, grauem Plastik beringt. Die Röhren selbst waren durchsichtig, oder beinahe durchsichtig, und auch aus Kunststoff. Sie standen nicht nur ringsherum an den Wänden, sondern waren auch überall hintereinander aufgereiht wie Lebensmittelregale aus früheren Zeiten. Es mussten mindestens hundert sein.
  Ungefähr ein Viertel der Röhren enthielt Zombies.
  Manche von ihnen schlurften auf der Stelle, stießen sich die Nasen wieder und wieder an und hinterließen Schlieren von geronnenem Blut auf dem Kunststoff. Manche waren hingefallen, hatten sich in ihren Röhren verkeilt und kämpften darum, sich aufzurichten. Einer – derjenige, der ihnen am Nächsten war – stampfte unaufhörlich über seine eignen Gedärme. Das große, verfaulte Loch seiner Bauchhöhle enthielt noch immer klebrige Stückchen von Eingeweiden, aber die meisten seiner Organe waren Teil des Breis unter seinen Füßen geworden. Das Geräusch seiner Schritte erinnerte an solche, die sich durch dicken, schmatzenden Matsch kämpften.
  Ein lauter, ächzender Chor durchzog den Raum wie ein andauerndes Echo.
  Dill zog sich ihr Hemd über die Nase. Sie würgte, als müsse sie sich übergeben.
  «Regen Sie sich nicht auf, Dill», sagte Aaron. «Drehen Sie sich um. Sehen Sie sie nicht an. Das macht es leichter. Können Sie den sanften Zug spüren? Das ist frische, kalte Luft. Versuchen Sie einfach, sich zu entspannen.» Aaron warf Carl einen Blick der Empörung zu. «Du hast sie nicht gewarnt?»
  Carl zuckte mit den Schultern. «Ich hab nicht dran gedacht», sagte er. «Geht's dir gut, Dill?»
  Eine weitere Welle der Übelkeit überkam Dill. Ihr fiel auf, dass sie dem Stöhnen lauschte. Sie schloss die Augen und drehte ihr Gesicht direkt in den Strom frischer Luft aus der nächstliegenden Lüftung. Sie wünschte, sie könnte dort hineinkriechen und dann von hier verschwinden. Denk an etwas anderes, ermahnte sie sich selbst. Denk nicht an den Geruch.
  Den Geruch von Fäulnis. Von Verfall. Verwesung.
  «Hier, gib mir das …»
  Carls Stimme. Beinahe geisterhaft. Dill rang mit ihrem Magen. Galle füllte ihren Mund, heiß und sauer. Sie schluckte sie wieder hinunter. Auf keinen Fall würde sich vor den Männern übergeben. Auf gar keinen Fall.
  Sie würgte wieder. Verkrampfte sich.
  Dann lag Carls Hand auf ihrem Nacken. Die plötzliche Stärke und Wärme erschreckte sie. Ihre Hand wurde von ihrem Mund geschoben und etwas Kaltes wurde ihr über die Oberlippe geschmiert. Klebrig. Wie Schleim. Ihr Magen überschlug sich wieder. Dann roch sie Menthol.
  Dill holte Luft. Noch mal. Der Gestank der Fäulnis verflog, verschwand unter dem Menthol. Mehr Luft.
  Carls Hand drückte ihren Nacken, beruhigte sie. «Dill? Packst du es?» Seine Stimme war leise; nicht stichelnd, nicht abschätzig, nur voller ehrlicher Sorge.
  Dill nickte. Sie öffnete ihre Augen, blieb aber der nackten Wand zugewandt. «Ich bin okay. Mir geht’s gut. Danke. Können wir weitermachen?»
  «Und ob wir das können», sagte Aaron und drehte sich um. «Folgt mir. Mein Büro ist hinten.» Er sah zu Dill zurück, die ihm ein schwaches Lächeln schenkte. «Besser? Ja? Mit dem Menthol?»
  Dills Blick flog zu Carls Rücken, ehe sie Aaron wieder zittrig zulächelte. «Ja.»
  Er lächelte zurück und ging ihnen voran. Dill berührte ihre Lippen behutsam mit einem Finger. Sie wollte sehen, ob das Zeug farbig war, ob sie wie ein Idiot mit einer grünen Oberlippe aussah, aber es war farblos. Jetzt konnte sie die Zombies betrachten, ohne dass sich ihr der Magen umdrehte. Denny würde sterben, wenn er dies sehen könnte; er würde vor Entsetzen sterben.
  Sie konnte noch immer das Gewicht und die Wärme von Carls Hand in ihrem Nacken spüren, und sie vermisste ihren Trost.
  Sie folgte den Männern durch eine weitere Tür, auf deren Milchglasscheibe Aarons Name geschrieben stand.
  «Sie haben mir das heute Morgen zur Ansicht geschickt. Die Personalverwaltung.» Aaron hantierte mit einem Monitor auf dem Schreibtisch. Als er zum Leben erwachte, tippte Aaron darauf. «Sie denken, es sei nur Routine. Na ja, nicht unbedingt Routine. Uns brechen nicht jeden Tag Zombies aus.» Sein Lachen war ein angespanntes Schnauben. «Okay, da. Seht es euch an.»
  Plötzlich sah Dill Carl von hinten in dem Flur, den sie gerade entlang gegangen waren. Ein kleiner Mann in einem weißen, blutbesudelten Overall lag zu seinen Füßen und ein Zombie lag direkt neben dem Mann. Aaron kniete weiter weg, mit dem Gesicht zur Kamera. Seine Hand lag auf seinem Mund und sein Blick war schockiert und verzweifelt.
  Es gab keinen Ton.
  Carl beugte sich näher zu dem kleineren Mann, und Dill konnte die Waffe sehen, die an Carls Seite verborgen war. Der kleinere Mann sah zu ihm auf; sein Gesicht war nur teilweise von Carls Körper verdeckt. Der Mann schüttelte den Kopf; seine Hände begannen sich zu heben, mit den Handflächen nach oben, abwehrend. Seine Lippen formten Worte. Carl bewegte sich so schnell und effizient, dass Dill es kaum wahrnahm. Ein Loch erschien zwischen den Augen des kleinen Mannes. Carl trat zurück, während Aaron nach vorne trat. Es wirkte fast choreografiert.
  Aaron hielt die Aufnahme an.
  Carl sah mit erwartungsvoll nach oben gezogenen Augenbrauen auf. «Was ist damit?»
  «Da war ein Gesicht. In der Waschraumtür. Sieh's dir noch mal an.»
  Die Szene wiederholte sich, aber dieses Mal hielt Dill ihre Augen auf das gerichtet, was Aaron vorangekündigt hatte. Nachdem Carl den Techniker erschossen hatte, erschien ein Gesicht in der Türöffnung, knapp hinter Aaron.»
  Carl zuckte mit den Schultern. «Okay. Der Kerl stellt eine Stange Wasser ab und hört den Tumult. Wo liegt das Problem?»
  «Er ist nicht aus der Forschung.» Carls Augenbrauen schossen noch weiter in die Höhe. Aaron nickte. «Irgendwer hat diesen Zombie von der Leine gelassen und Randy auf dem Gewissen. Das könnte die Person sein, die das getan hat.»
  «Z.A.M.S. meinst du? Du glaubst, das war ein heimliches Vorhaben?»
  Aaron nickte wieder.
  Dill wandte sich ab und tastete hinter sich nach einem Stuhl. Sie setzte sich hastig.
  Carl drehte sich zu ihr um. «Wird dir wieder schlecht?»
  «Nein. Oder, ich weiß es nicht, nur ein bisschen vielleicht.» Ihr Versuch, zu lächeln, fühlte sich eigenartig auf ihrem Gesicht an. Wie eine Turnübung; eine Dehnung.
  Carl drehte sich wieder um und drückte abermals auf ‹Play›. Die Szene wiederholte sich.
  Dennys Gesicht erschien in der Tür zur Toilette.

***

  «Diese Arschlöcher», sagte Carl. Seine Stimme – ein raues Grollen – unterbrach Dills unsortierte Gedanken.
  «Hm? Wer?»
  Carl nickte zum Rückspiegel. «Deine Freunde da hinten. Floyd und Floyd.»
  Dill sah in ihren Seitenspiegel. Der Wranglertruck war so nah am Gutachterauto, dass alles, was sie sehen konnte, der Kühlergrill und der schwere, vorne am Truck befestigte Kuhfänger waren. Die Reifen quietschten, als der Pick-up abrupt bremste. Die beiden Wrangler kamen in Sicht. Sie lachten und zeigten dem SUV den Mittelfinger. Dabei schlugen sie einander auf die Schultern. Dann brauste der Truck wieder bis zur ihrer Stoßstange heran.
  Die Straße war wie erwartet verlassen, doch die Wälder, die sie säumten – laublos, aber dicht mit ausgewaschenem grauen Unterholz bewachsen – verliehen ihr eine zusätzliche Dimension der Trostlosigkeit. Dill gefiel das nicht. Für ihren Geschmack war sie zu weit von der ZI-Anlage entfernt, zu weit weg von der Sicherheit.
  «Na ja», sagte sie, «zumindest werden sie uns helfen, falls etwas schief geht.» Zweifel, so grau und leblos wie die sie umgebenden Wälder, hingen über ihren Worten.
  «Vielleicht. Vielleicht nicht.»
  Dill musterte Carls Profil, um herauszufinden, ob er sie neckte. Er schien auf die Straße vor sich konzentriert und sein Blick fegte in regelmäßigen Abständen über die Spiegel. Es sah nicht so aus, als würde er herumalbern.
  «Was meinen Sie?», fragte Dill. Sie hielt ihren Tonfall gleichmäßig, aber eine weitere Woge des Unbehagens wollte ihr dennoch ein flaues Gefühl im Magen bescheren.
  «Man hört Einiges», sagte Carl. «Geschichten, Gerüchte. Über sie.» Er nickte wieder zum Spiegel. «Sie sind eine eingeschworene Clique. Unberechenbar.»
  «Wie unberechenbar? Uns-in-diesen-Wäldern-hier-draußen-umbringen-unberechenbar?» Sie grinste, aber als Carls Ausdruck unverändert blieb, purzelte dieses Grinsen aus ihrem Gesicht. «Carl?»
  Er veränderte seine Haltung und sein Blick überflog abermals die Spiegel. «Nein. Nein, ich glaube nicht.»
  «Sie glauben nicht?» Dills Blick wanderte wieder zum Seitenspiegel. Der Wranglertruck war zurückgefallen, aber selbst aus dieser Entfernung konnte sie sehen, dass die Männer die Köpfe zusammensteckten. Konspirativ. Sie lachten nicht mehr.
  «Ich meine, ich glaube nicht, dass sie uns töten würden; sie würden keinen vom Assessment-Team umbringen. Wir arbeiten zu eng mit ihnen zusammen, aber …»
  «Aber was?»
  «Na ja, jemanden nicht umbringen, ist nicht so schrecklich weit entfernt vonzulassen, dass jemand umgebracht wird», sagte er. «Verstehst du, was ich meine?»
  Das tat sie, und gleichzeitig tat sie es auch nicht, aber sie beschloss spontan, dass sie gar nicht mehr wissen wollte. Sie lehnte sich im Sitz zurück und riss ihren Blick vom Spiegel los. «Tja. Was glauben Sie, wird Aaron tun?»
  «Tun? Wegen des Überwachungsvideos? Nichts.»
  Hoffnung erblühte in Dills Bauch. «Nichts? Sie meinen, es ist keine so große Sache?»
  «Ha! Nein, das meine ich nicht!» Carl bellte ein Lachen und schüttelte den Kopf. «Es ist eine ziemlich große Sache. Wer immer das war, könnte den Zombie freigelassen und den Tod dieses Technikers verursacht haben. Besonders, wenn das einer dieser ZAMSioten war.» Carl schüttelte wieder den Kopf. «Aaron wird deshalb nichts tun, weil es nicht seine Aufgabe ist.»
  «Wessen Aufgabe ist es dann?»
  Carl blickte sich mit leicht zusammengekniffenen Augen in der Fahrerkabine des SUV um. «Unsere – Assessment – aber nur indirekt.»
  «Warum kümmert sich die Security nicht darum?»
  «Dill, hast du jemals jemanden aus der Security getroffen?»
  «Klar. Die patrouillieren nachts im Gebäude.»
  «Und was hast du von ihnen gehalten?»
  Dill zuckte mit den Schultern. «Nicht viel, denke ich. Sie waren irgendwie …» Sie stützte ihr Kinn in ihre Hand, während sie überlegte, wie sie das formulieren sollte. «Sie wollten jedes Mal die Hand scannen, selbst wenn man ihnen drei oder vier Mal während einer Schicht begegnete. Ich nehme an, sie sind Pedanten.»
  «Tja, so kann man es auch nennen. Oder: einfallslos. Die Leute der inneren Sicherheit sind so etwas wie Bauernopfer. Weißt du, was das bedeutet?» Dill schüttelte den Kopf und er fuhr fort: «Sie füllen eine Lücke, sie tun die Arbeit, die man ihnen aufträgt, wenn man sie ihnen aufträgt. Sie sind Roboter. Sie sind verzichtbar. Deswegen schickt man sie auf die Außenrundgänge. Die hellsten Köpfe in ZI stecken an zwei Orten: Forschung und Assessment.»
  «Wie hab ich mich dann qualifiziert?», fragte Dill. Sie war nicht auf Komplimente aus; in ihrer Stimme lag nichts als aufrichtige Verwirrung.
  «Die Prüfungen», sagte Carl. «Du hast gut dabei abgeschnitten. Deswegen wurdest du ausgewählt.»
  Dill nickte, aber sie war überrascht. Diese Prüfungen hatten vor einem Jahr stattgefunden, als sie sich zum ersten Mal fürs Assessment beworben hatte. Eine Menge anderer Leute hatten diese Prüfungen auch abgelegt. Eine Menge.
  Sie wandte sich ihm zu. «Warum …», begann sie, doch Carl riss das Steuer herum und schleuderte sie heftig in die Beifahrertür.
  Er fluchte und rang mit dem Lenkrad, als der Geländewagen auf den weichen, erdigen Seitenstreifen rollte. Hinter ihnen heulte der Motor des Wranglertrucks auf. Dann folgte ein Geräusch, das beinahe an einen in die Hände klatschenden Riesen erinnerte: ein kräftiger, fleischiger Schlag.
  Was immer Carl mit seinem Schlenker ausgewichen war, die Wrangler hatten es erwischt.
  Carl drückte das Lenkrad zurück, um das Fahrzeug abzubremsen, und hielt auf dem Seitenstreifen. Dill tastete zittrig nach ihrem Türgriff.
  «Steig nicht aus», sagte Carl. «Die wichtigste Regel des Assessments, und schreib sie dir hinter die Ohren, Dill: Beurteile. Beurteile immer zuerst. Stelle fest, was dich erwartet.»
  Mittlerweile klebte Dills Blick an Carl. Seine Hände zitterten auch ein wenig, aber seine Augen hafteten auf dem Spiegel. Dill drehte sich um, um aus dem Rückfenster zu sehen.
  Der Wranglertruck hatte sich seitwärts auf der Straße gedreht und schaukelte leicht. Ein Zombie hing halb im Kühlergrill und halb unter dem Truck. Er zappelte umher wie ein übergroßer Käfer. Einen Augenblick später öffnete sich die Beifahrertür des Trucks.
  Carls ließ seine Tür aufschnappen. «Okay, Dill, spring raus. Wir müssen die Augen offen halten, während sie das Ding losmachen. Kletter aufs Dach.» Er lehnte sich wieder ins Fahrzeug, als sie schon im Begriff war, auszusteigen. «Nimm deine Armbrust mit.»
  Dill errötete und griff danach, dann kletterte sie von der Motorhaube aufs Dach. Ihre Stiefel polterten und quietschten. Die Wälder waren gnadenlos grau. Carl hatte sich ein Stück vom Geländewagen entfernt, um hinter den Wranglertruck sehen zu können. Abgesehen von dem röchelnden, ächzenden Zombie war es ganz still. Seine Arme und die Hälfte seines Kopfes steckten im Kühlergrill. Das darüber liegende Bullenhorngestell hatte eine seiner Zombiekopfdekorationen verloren, und als Dill danach suchte, fand sie das Ding zerschmettert auf der Straße liegend. Musste heruntergefallen sein, als sie hart gebremst hatten. Es hatte eine Spur von geronnenem Blut und diesen Blutgerinnsel-Kaffeesatzkrümeln hinterlassen. Musste ein ziemlich reifer Kopf gewesen sein. Als Übelkeit Dill zu überkommen drohte, riss sie sich vom Anblick des Zombiekopfs los und betrachtete stattdessen die Wälder.
  Der Wrangler war zum Heck des Trucks gegangen und kam jetzt mit einem langen Brecheisen zurück. Er warf einen Blick zum Geländewagen, wie um sich davon zu überzeugen, dass sie Wache standen. Er stach das scharfe Ende des Eisens mit einem schnellen, effektiven Stoß durch den Kopf des Zombies, der sofort zu zappeln aufhörte. Dann schob der Wrangler das Brecheisen zwischen den Zombie und den Kühlergrill und begann, ihn weg zu hebeln.
  Dill bemühte sich darum, ihren Blick auf die Wälder gerichtet zu lassen und nicht auf den schauerlichen Vorgang beim Pick-up, aber mit jedem Kreischen von Metall auf Metall wurden ihre Augen zurückgezogen. Es schien beinahe so, als ob der Zombie vor Schmerzen schrie. Das Z.A.M.S.-Manifest ging ihr durch den Kopf. Es war schrecklich würdelos, von jemandes Kuhfängerkühlergrill herunter gehebelt zu werden – aber war es falsch?
  Endlich löste sich der Zombie mit einem zähen Schmatzen ähnlich dem eines Bootes, das sich aus dem Schlamm löst. Dill blickte gerade rechtzeitig wieder zurück, um den Wrangler einen Arm von der Kühlerhaube zerren zu sehen. Er drehte sich um und warf ihn in den Wald.
  Dann stand der Wrangler mit in die Hüften gestützten Fäusten da und begutachtete den Zombie. Er sah zur Fahrerkabine des Trucks.
  «Ganz 'nen frischen, Floyd, ziemlich frisch. Gut für'n Truck?»
  «Grundgütiger, Jungs, nein. Lasst uns verschwinden», sagte Carl von seinem sechs Meter entfernten Standort. Er blickte an ihnen vorbei hinter sie. «Ihr braucht verdammt noch mal keinen …»
  «Komm schon, Abby!», sagte der Wrangler. «Sei ma' keine Memme! Dauert nur'n Minütken. Geh in deim Pussykarre rein, wennde Angst has'!»
  «Fick dich», entgegnete Carl. Seine Tonfall lag irgendwo zwischen genervt und amüsiert. «Beeilt euch einfach.»
  Der Wrangler grinste und zeigte der Fahrerkabine den Daumen nach oben. Der Truck schwankte. Wildes Gelächter driftete zu Dill herauf. Der Wrangler zog eine lange, gezackte Klinge aus einer Scheide an seinem Bein. Er beugte sich über den Zombie. Als er zu Dill hinauf sah, grinste er und zeigte seine von Tabak und Fäulnis schwarzen Zähne. Er begann, am Hals des Zombies herumzusäbeln.
  Dill drehte sich weg und schluckte. In der Stille des Morgens war das langsame Aufbrechen und Zerreißen des Fleisches das lauteste Geräusch. Sie konnte sich selbst nicht davon abhalten, einen Blick zurückzuwerfen. Der Kopf des Zombies wackelte heftig von rechts nach links, wie zur Verneinung. Mit jedem Reißen des Messers ließ ein rollender Ruck das geronnene Blut in Klumpen auf den Boden prasseln. Streifen von Haut und weißen Sehnen verfingen sich an den Zähnen der Klinge, dehnten sich und flogen umher wie Gummibänder. Als der Wrangler auf den Knochen traf, sah Dill erneut weg.
  Sie konzentrierte sich auf die Wälder, während das Geräusch immer weiter andauerte. Oh ja, es war falsch. Konnte etwas noch falscher sein, als das hier? Das war jemandes Sohn unter dem Stiefel des Wranglers, vielleicht jemandes Vater. Tränen brannten in ihren Augen, und ihre Kehle verengte sich. Der Wrangler rammte den Kopf auf die Spitze des Bullenhorns und Wut peitschte durch Dills Nervensystem wie sengendes Adrenalin.
  Eine Hand packte ihren Knöchel und zog daran.
  Sie machte einen harten Bauchklatscher, der ihre Zähne aneinander schlagen ließ und ihr den Atem heftig aus dem Körper presste. Ihre Armbrust glitt ihr aus den Händen und polterte an der Seite des Geländewagens entlang zu Boden. Dill zog eine schreiende, brennende Lunge voll Luft ein und trat nach der Hand. Ihr Stiefel traf auf etwas Hartes und Nachgiebiges, aber der Druck auf ihren Knöchel blieb. Carl drehte sich mit plötzlich furchterfülltem Blick um. Dill schrie wieder. Ihre Hände tasteten über das Fenster, suchten Halt an der glatten Oberfläche.
  «Abby, nein!», rief der Wrangler; es war das wütende Brüllen eines Bären. Der andere Wrangler sprang auf der Fahrerseite aus dem Truck.
  «Treten, Abby! Muss'n Wichser treten!», rief der zweite Wrangler. Sie tat es und bekam gleichzeitig die Kante des Fensters zu fassen. Ihre Fingerspitzen waren weiß und schmerzten. Die Zeit verlangsamte sich, wurde so ziehend und elastisch wie eine Zombiesehne. Als sie abermals um sich trat, sank ihr Stiefel in nichts. Sie schloss die Augen, schrie, und wartete auf Zähne, die sich in ihr Bein senkten. Rennende Füße stampften um den Geländewagen herum. Er neigte sich und wackelte, und seine Federung ächzte unter zusätzlichem Gewicht. Ein weiterer Zombie, es musste einer sein, erklomm das Dach des Autos. Die Zeit stand still. Beinahe konnte Dill einen kalten Mund in ihrem Nacken spüren. Die harten Zähne eindringen. Ihr Leben sie in einem heißen Schwall verlassen.
  Eine Hand schlug ihr auf den Hintern.
  «Der Wichser is erledich', Abby. Jetz' tuste ma aufsteh'n.» Die Stimme des Wranglers war ein leises Knurren in ihrem Ohr. Er kniete neben ihr auf dem Dach. Dill rollte sich herum und kam selbst auch auf die Knie. Ihr Atem war ein pfeifendes Keuchen. Der Arm des Wranglers lag schwer auf ihren Schultern. «Jetz' tuste aba ma nich' vom Dach fall'n, Abby.» Er lachte und drückte sie.
  Carl stand mit seinem Messer in der Hand auf der Fahrerseite. Klumpige Spritzer schwarzen Blutes schmückten sein weißes Hemd und seine Kakihosen. Er starrte Dill angespannt und unverwandt an.
  «Geht's dir gut, Dill?», fragte er. «Nicht gebissen?»
  Sie schluckte schwer und schüttelte den Kopf. Carl sah an ihr vorbei und nickte leicht. Sie warf rechtzeitig genug einen Blick hinter sich, um zu sehen, wie der andere Wrangler eine Waffe senkte. Er grinste sie an – aber er war bereit gewesen, sie auszuschalten, wäre sie gebissen worden.
  «Bis'n Glückspilz, Abby. Dat waa nur'n Steppken, wat nich' mit seim hässlichen Scheißmund über deim Stiefel rangekomm'n is.»
  Dill riss ihren Blick von ihm los und beugte sich vor, um über die Fahrzeugkante hinweg nach unten zu sehen. Ein Kinderzombie, ein Kindzie, vielleicht neun oder zehn, lag zerknautscht neben der Fahrertür. Es war noch sehr frisch, mit kaum verschmutzen oder zerrissenen Kleidern. Seine Haut, obwohl käsig weiß, war noch frei von der roten und lilafarbenen Fäulnis, die sich entwickelte, wenn die Zombies «alterten». Seine Füße waren klein und nackt und schmutzig. Dills Augen drifteten widerwillig zu ihren Kakihosen. An ihrem Knöchel, wo der schwere Stiefel sie geschützt hatte, war der Stoff vom Mund des Zombies feucht.
  Er hätte sie beinahe getötet.
  Wolken zogen an ihrem peripheren Sichtfeld herauf, und sie fiel vornüber. Sie streckte ihre Hand aus, um sich abzustützen, traf aber nur auf Luft. Sie war zu nah am Rand. Sie würde herunterfallen.
  Die Welt wurde grau.

***