Titel

Candice Fox

Dark

Thriller

Aus dem australischen Englisch von
Andrea O’Brien

Herausgegeben von
Thomas Wörtche

Suhrkamp

Dark

Für Violet

Blair

Ich blickte direkt in die Mündung einer Waffe. Auf leisen Sohlen war sie hereingeschlichen. Flink wie ein Wiesel. Aus dem Augenwinkel hatte ich eine Gestalt vor dem Schaufenster der Pump-’n’-Jump-Tankstelle vorbeihuschen sehen, ein verwischter Schatten vor einem roten Sonnenuntergang mit Palmen. Sekundenschnell. Die Türglocke, die sie vom Schatten zur echten Person werden ließ, war noch nicht verklungen, da fuchtelte sie schon mit dem Teil vor meinem Gesicht herum. Dass sie dabei zitterte, machte meine unheilvolle Lage noch bedrohlicher. Vorsichtig legte ich den Stift hin, den ich gerade noch fürs Kreuzworträtsel benutzt hatte.

Tiefes Bedauern: Reue. Vielleicht das letzte Wort, das ich je schreiben würde. Wenigstens passte es zu mir.

Ich legte die Hände flach auf den Tresen, zwischen die braun gesprenkelten Bananen zum Stückpreis von einem Dollar und dem Doppelpack Clark-Schokoriegel zum Sonderpreis.

»Halt bloß die Schnauze!«, sagte das Mädchen.

Mein Blick wanderte von der Waffe zu ihr, und was ich sah, erfüllte mich mit Furcht: Ihre Hand war nass vor Schweiß und Blut, der glitschige Zeigefinger rutschte am Abzug herum. Die Sicherung war gelöst. Ihr Arm, mager und sehnig, würde sicher bald müde werden, denn die Waffe, die ihr eindeutig nicht gehörte, war zu groß und schwer für sie. Dahinter ihr Gesicht, ein sieches Lilagrau, wie eine frische Leiche. Auf der Stirn klaffte eine fiese Wunde, die so tief war, dass ich bis zum Knochen sehen konnte. Fingerabdrücke prangten im Blut an ihrer Kehle, zu groß, um von ihr selbst zu stammen.

In dieser Situation rumzuschreien war nicht ratsam. Vor Schreck könnte ihr verschmierter Finger abdrücken und mein Hirn über die hinter mir aufgereihten Zigarettenschachteln verteilen. Ich wollte mein Leben auf keinen Fall in dieser bekloppten Uniform aushauchen, die Mütze mit dem großen rosa Känguru und dem Schild mit der Aufschrift »Blair«, darunter das Versprechen: »Ich bediene Sie gern.« Ersteres stimmte, Letzteres war glatt gelogen. In meinem verwirrten Geisteszustand dachte ich ernsthaft darüber nach, was mein kleiner Sohn Jamie wohl bei meiner Beerdigung tragen würde. Er besaß einen Anzug, das wusste ich zufällig, denn den hatte er bei meiner Bewährungsanhörung getragen.

»Moment!«, entfuhr es mir, Ausdruck meiner Überraschung und verzweifelte Bitte zugleich.

»Mach die Kasse leer!« Das Mädchen streckte die Hand aus, blickte hektisch aus dem Fenster. An den Zapfsäulen herrschte gähnende Leere, genau wie auf dem Parkplatz dahinter. »Und die Schlüssel zu deinem Auto.«

»Mein Auto?« Meine Hand flog an die Brust, was sie ruckartig zurückweichen ließ. Sie umklammerte die Waffe umso fester. Wie blöd kann man sein? Keine raschen Bewegungen mehr! Keine dämlichen Fragen! Mein verbeulter Honda, das einzige Fahrzeug weit und breit, stand unter einer großen Reklametafel. Idris Elba mit einer Armbanduhr, mit der man zwei Universitätsausbildungen finanzieren könnte.

»Kiste, Kohle!«, stieß das Mädchen hervor. Sie biss die Zähne zusammen. »Los, Bitch!«, knurrte sie.

»Hören Sie«, sagte ich langsam. Einen Augenblick lang hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit. Der Kühlschrank mit den Burritos summte sanft. Die Lampen hinter der Plastikfratze des Slushie-Automaten blinkten. »Ich kann Ihnen helfen.«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, verstand ich, wie blödsinnig sie klangen. Es gab mal eine Zeit, da konnte ich Menschen tatsächlich helfen. Kranken Kindern und deren panischen Eltern. Ich trug Chirurgenkittel oder Businesskleidung, keine Kängurus, keine Schildchen mit hirnrissigen Slogans. Aber zwischen damals und heute gab es eine Zeit, in der man mir Gefängniskleidung anlegte und mir mein Helfersyndrom sukzessive austrieb. Die Kleine verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere und fuchtelte dazu mit der Waffe herum, damit ich sie ernst nahm. »Ich scheiß auf dich und deine Hilfe! Die brauch ich nicht. Ich muss hier weg!«

»Wenn Sie einfach …«

Auf einmal erleuchtete ein Blitz den Verkaufsraum, erst danach ertönte das zugehörige Geräusch, eine Explosion in meinem Trommelfell, massiver Druck in meinem Schädel, als die Kugel viel zu nah an mir vorbeisauste. Schrillen. Sie hatte ein Loch in den Marlboro-Automaten geschossen, direkt über meiner rechten Schulter. Der Gestank von verbranntem Tabak und geschmolzenem Plastik lag in der Luft. Die Waffe wurde erneut auf mich gerichtet.

»Okay«, sagte ich, »okay!«

Auf dem Weg zur Kasse warf ich einen raschen Blick auf ihr Spiegelbild in der Scheibe. Goldblonde Locken. Stupsnäschen. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, aber während meiner Zeit hinter Gittern waren mir vermutlich tausende problembeladene, aggressive Jugendliche begegnet, die, ohne mit der Wimper zu zucken, herumballern würden. Rasch nahm ich den Schlüssel aus dem Becher neben der Kasse.

»Diese Tankstelle gehört dem Kartell«, erklärte ich. Meine Hände zitterten. Bald würde ich schweißgebadet sein, hyperventilieren, mit den Zähnen klappern. Bei mir steigerte sich die Furcht immer nur langsam bis zur Panikattacke. So hatte ich es mir antrainiert. »Das sollten Sie wissen. Wenn Sie sich an deren Geld vergreifen, müssen Sie und Ihre Familie dafür büßen. Sie können den Wagen nehmen, aber …«

»Halt die Fresse!«

»Sie werden so lange suchen, bis sie Sie gefunden haben«, sagte ich, als ich die Kasse aufschloss. Das Mädchen lachte. Während ich die Geldstapel aus den Fächern zog, riskierte ich einen Seitenblick. Das war kein amüsiertes Kichern gewesen, sondern ein ironisches Schnauben. Es durchfuhr mich eiskalt, als ich begriff, was das bedeutete. Unser Spiegelbild im Schaufenster. Wie ich hatte sie den Blick nach draußen gerichtet, wo es langsam dämmerte. Keine Menschenseele. Wir waren schrecklich allein, sie und ich, und doch nicht. Ich drückte ihr die Scheine in die Hand.

»Es ist schon jemand hinter dir her«, sagte ich. Das Mädchen nickte angespannt. Vorsichtig zog ich meinen Autoschlüssel aus der Tasche und ließ ihn in ihre ausgetreckte Hand fallen. Als die Mündung endlich aus meinem Sichtfeld verschwand, war mir, als würde jemand den Klammergriff von meiner Kehle lösen.

Das Mädchen rannte zu meinem Wagen und brauste davon.

Korea Town, dessen Lichter ich nun durchs Schaufenster blinken sah, schien einen kollektiven Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Als hätte jemand die Pausetaste gelöst. Langhaarige Jugendliche balgten sich an Straßenecken. Ein Mann, von der Arbeit heimgekehrt, ließ den Deckel seines Briefkastens zuknallen und schlenderte mit der Zeitung unterm Arm auf seine Haustür zu. Die bösartige Bedrohung, die ich gespürt hatte, als das Mädchen vor mir stand, war vorüber.

Ich hätte die Polizei rufen können. Um einen Überfall zu melden oder ihnen von dem verzweifelten Mädchen zu erzählen, das wie ein gejagtes Tier vor jemandem oder irgendwas auf der Flucht war, gnadenlos verfolgt, und schon wer weiß wie lange ums Überleben kämpfte. Doch in Los Angeles wimmelte es von solchen Menschen. Das war schon immer so gewesen. Ein Dschungel mit Gejagten und Jägern. Ich beschloss, dem Mädchen einen kleinen Vorsprung zu geben, bevor ich mein Auto als gestohlen meldete, wischte mir mit dem Saum meiner Bluse den Schweiß vom Gesicht und versuchte, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen.

Meine Sucht pochte dumpf, ein kurzes, aber heftiges Verlangen trieb mich dazu, den Hörer neben der Kasse in die Hand zu nehmen. Mein Finger zögerte über den Tasten. Mit aller Macht zwang ich mich zum Auflegen. Die Wanduhr ließ mich wissen, dass das Ende meiner Schicht noch eine Stunde entfernt war. Kurz überlegte ich, Jamie anzurufen, doch ich wusste, dass er bereits schlief.

Stattdessen ging ich an den Bankomaten in der Ecke des Ladens. Ich schob meine Karte in den Schlitz und hob vierhundert ab, ungefähr die Summe, die das Mädchen gestohlen hatte. Die Scheine legte ich in die Kasse. Obwohl ich die wahren Besitzer der Tankstelle noch nie gesehen hatte, wusste ich, was das Kartell mit ihr anstellen würde, denn im Knast war ich einigen Kartellfrauen begegnet, hatte genug Spanisch aufgeschnappt, um ihre Geschichten zu belauschen. Die Kleine, wer auch immer sie sein mochte, brauchte nicht auch noch die Marino 13 im Nacken. Genauso wenig wie ich.

Die Quittung aus dem Bankomaten zerknüllte ich unbesehen und warf sie in den Mülleimer. Ich hatte einen langen Heimweg vor mir.

Jessica

»Ich kapier’s nicht«, sagte Wallert. Den ganzen Tag hatte er nichts anderes von sich gegeben. Dazu hatte er immer wieder neue Dinge aufgelistet. Und darauf gewartet, dass ihn jemand aufklärte. Jessica vermutete, die Liste umfasste mittlerweile eine dreistellige Anzahl von Dingen, die Wallert nicht kapierte. »Was hast du im Silver-Lake-Fall gemacht, und ich nicht, verdammt?«

Statt zu antworten, besah sie ihn im Rückspiegel, ihren Kollegen Detective Wallert mit seinen blutunterlaufenen Augen. Jessica verabscheute es, im Streifenwagen hinten zu sitzen, denn da gehörte sie nicht hin. Sie war es gewohnt, Wallerts hässliche Visage von der Seite zu sehen, nicht von hinten. Obwohl eine spezielle Reinigungsfirma die Rücksitze ungefähr einmal im Monat von Pisse, Scheiße, Sperma und Kotze befreite, war allen bekannt, dass immer was hängenblieb. Das Leder fühlte sich falsch an. An manchen Stellen kratzig. Statt auf die Straße zu achten, glotzte Wallert ständig nach hinten zu ihr. Zwischendrin trank er seinen mit Bourbon versetzten Coffee To Go, nur alle paar Sekunden schaute er mal kurz nach vorn. Sie saß zwar im schmuddeligsten Bereich des Wagens, aber in diesem Fall war es wohl auch der sicherste. Detective Vizchen, der ausnahmsweise vorn mitfahren durfte, zog pikiert die Nase hoch, weil sie nicht antwortete, als wäre ihr Schweigen ein persönlicher Affront.

»Ich war da«, setzte Wallert seine Litanei fort. Sie fuhren langsam an einigen Kindern vorbei, die vor einem Haus standen und ihre Musik durch die Nacht wummern ließen. »Ich war mittendrin. Der Typ konnte mich jederzeit anrufen, wenn er mich brauchte. Tag und Nacht. Das wusste er auch. Ich hab die Spur mit dem Truckfahrer aufgetan.«

»Eine Spur, die in die Irre geführt hat«, sagte Jessica schließlich. »Und das hab ich dir auch klipp und klar gesagt, bevor du dich halbherzig darangemacht hast, sie zu verfolgen. Die paar Male, die Stan Beauvoir dich angerufen hat, warst du ihm keine große Hilfe.«

»Du. Laberst. Doch. Scheiße!«, zischte Wallert. Dazu schlug er bei jedem Wort aufs Lenkrad. Jessica schwieg wieder. Das, was Wallert im Silver-Lake-Fall getan hatte, als »keine große Hilfe« zu beschreiben, war noch milde ausgedrückt. Der seit dreizehn Jahren ungelöste Fall war ihr und Wallert als kleine Nebenbeschäftigung hingeworfen worden, ein Lückenfüller, den Wallert von Anfang an nicht ernst genommen hatte. Die Serie von Entführungen und Morden an jungen Frauen, denen der Täter auf Parkplätzen auflauerte, um sie in der Gegend um Silver Lake umzubringen, war auf ebenso mysteriöse Weise zu Ende gegangen, wie sie begonnen hatte. Im Jahre 2007 waren innerhalb von drei Monaten vier Frauen ermordet worden. Wallert hatte sich damals auf einen Trucker als Täter eingeschossen und behauptet, der Mann setze seine Serie sicher in einem anderen Staat fort, womit die Sache zur Angelegenheit einer anderen Dienststelle wurde. Die Fotos der Opfer, die Jessica ihm in die Hand drückte, betrachtete er mit einem Gähnen. Bei Bernice Beauvoir machte er eine anzügliche Bemerkung über ihre »prallen Lippen«. »Solche Prachtexemplare kriegst du nicht vom Bonbonslutschen«, sagte er. Das Bild zeigte Bernices Kopf, der wie eine Trophäe auf einem Baumstamm stand. Ihre Leiche hatte man in einem Wald gefunden.

»So ’n Haus«, unterbrach Vizchen die Stille im Wagen. »kostet bestimmt so … fünf Millionen Mäuse?«

»Kein Mensch vermacht einer Polizistin so eine Hütte, nur weil sie einen Fall für ihn gelöst hat.« Wallerts Blicke im Rückspiegel schossen Pfeile auf Jessica ab. »Gib einfach zu, dass du ihm den Schwanz gelutscht hast, Jess. Dann würd’s mir besser gehen.«

Jessica biss die Zähne zusammen.

»Für fünf Millionen würde ich jeden Schwanz lutschen«, bemerkte Vizchen.

»Vizchen, halt die Fresse oder ich schieb dir meine Wumme rein! Mal sehen, wie die sich lutscht«, zischte Jessica.

Sie bogen in die Linscott Place ein. Verdunkelte Fenster, totale Stille. Wallert löschte das Licht, drückte das Gas durch, bretterte zur Nummer 4652, wo Zeugen verdächtige Bewegungen gesehen hatten. Er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen, damit er sich wieder seinem Klagelied widmen konnte.

Jessica stieg aus, kontrollierte ihre Waffe, meldete sich bei der Zentrale, um den Verdacht auf Einbruch und ihr Eintreffen zu bestätigen. Der Mond bestrahlte die stuckverzierten Häuser der Nachbarschaft und brachte die Drahtzäune vor den kahlen Vorgärten zum Funkeln. Nicht mal Hundegebell ertönte. Wallerts ließ seine Pranke auf ihre linke Schulter fallen. Wie einen Hammer.

»Du willst die Hütte echt annehmen?« Er zerrte sie zu sich herum. »Einfach so? Sie geben dir einfach die Schlüssel?«

»Nimm deine verdammten Wichsgriffel von meiner Schulter, Wallert!« Jessica stieß ihn weg. »Ich hatte erst einen Anruf wegen dieser Scheiße, einen einzigen. Also weiß ich genauso viel wie du. Erst muss ich mich mit dem Nachlassverwalter treffen, danach weiß ich mehr. Es könnte also alles ein blödes Missverständnis sein, ist dir das klar? Und du behandelst mich hier, als hätte ich das Erbe angenommen und wäre schon nach Brentwood gezogen, obwohl ich keine Ahnung habe …«

»In Brentwood hat jedes Haus einen Pool«, bemerkte Vizchen. Er lehnte sich ans Auto, die Arme verschränkt. »Deine neue Villa auch, oder?«

»Wenn es mit rechten Dingen zugehen würde«, sagte Wallert und stupste ihr den Finger in die Brust, »würdest du mir die Hälfte abgeben. Das wäre nur fair. Ich hab auch an dem Fall gearbeitet.«

»Keinen Finger hast du krumm gemacht! Du …«

»Ich seh hier keinen beschissenen Einbrecher.« Wallert schlenderte zurück zum Wagen und machte eine ausschweifende Handbewegung, die die gesamte Nachbarschaft einschloss. »Falscher Alarm. Lasst uns abhauen. Ich brauch einen richtigen Drink.« Statt einzusteigen, lehnte er sich an den Wagen, die Riesenpranken auf dem Dach, den Bierbauch ans Fenster gepresst. Er wandte sich Vizchen zu. »Selbst wenn sie mir nur ein Viertel abgibt, hab ich meine Schäfchen im Trockenen.«

»Schäfchen im Trockenen«, wiederholte Vizchen zur Bestätigung, nickte und grinste im Dunkeln wie ein Arschloch.

Da hörte Jessica plötzlich ein Wimmern.

Zuerst dachte sie, Wallert würde zu allem Überfluss heulen und wollte ihn gerade anmotzen, weil er den ganzen Tag gesoffen hatte und jetzt wie ein Häufchen Elend hier rumwinselte, aber irgendwas hielt sie zurück. Bei genauem Hinhören hatte sie nämlich den Eindruck, im Wind einen fernen Laut zu vernehmen, doch sie konnte ihn nicht genauer bestimmen. In den ärmeren Vororten klang alles lauter. Zu viel Beton. Sie sah nach rechts, betrachtete die Silhouette der Berge.

»Wohnt Harrison Ford nicht da drüben?«, fragte Vizchen. »Arnie übrigens auch, das weiß ich zufällig.«

»Habt ihr das gehört?«

»Sie hat sich verdammt gut mit dem Typen verstanden. Dem Vater. Beauvoir«, grummelte Wallert, als wäre Jessica gar nicht da. »Du hättest die beiden mal zusammen sehen sollen. Stundenlang war sie bei ihm. Angeblich, um ›über den Fall zu sprechen‹, über die tote Tochter. Wer’s glaubt … jetzt wissen wir ja Bescheid.«

»Klappe, alle beide!« Jessica knipste ihre Taschenlampe an. »Ich hab was gehört. Von da hinten. Wir müssen nachsehen.«

»Nur zu.« Vizchen schob das Kinn vor und nickte ihr zu. »Du bist doch die große Heldin.«

Wieder ertönte das Geräusch, schwächer, nur ein Flüstern im Wind. Vizchen grinste böse, als Wallert seinen Becher aus dem Wagen fischte.

Jessica ging ein paar Schritte die Straße entlang, bis zur Biegung, dort blieb sie stehen und lauschte. Zwischen zwei Häusern entdeckte sie einen Lichtstrahl. Bewegung. Statt auf der Straße weiterzugehen, schlich sie sich seitlich an einem unbeleuchteten Haus entlang, schob sich an nassen Palmwedeln vorbei, bis sie vor dem Tor zum Garten stand. Sie kletterte drüber, rannte so schnell sie konnte bis zum Nachbarzaun, um einem möglichen Hundeangriff zu entkommen, und erklomm auch diesen. Die Villa und Wallerts Wut waren vergessen. Sie spürte die Hitze. Die Gefahr. Die Luft war wie aufgeladen. Auf dem Boden aufgekommen, zog sie ihr Funkgerät hervor und meldete noch im Laufen ihren Einsatz. Vor der Garage des großen Hauses blieb sie stehen.

Eine Leiche. Das wusste sie sofort, als sie sie in der Einfahrt mit dem Stiefel berührte. Das weiche, schwere Gewicht, das durch den Aufprall erst vor-, dann schlaff auf ihren Fuß zurückflappte. Sie war noch warm. Feucht. Im Schatten des üppigen, den niedrigen Zaun vor der Garage dominierenden Aloebusches ging sie in die Hocke und betastete den leblosen Körper. Bauch, Brust. Rasselndes Keuchen. Kein Puls. Ihr Herz raste, als sie erneut zum Funkgerät griff.

»Wally, ich habe hier einen Code zwei«, sagte sie. »Wiederhole: Code zwei an der Linscott Place vier, sechs, neun, neun.«

Aus der Garage, ein paar Meter entfernt, drang ein Laut. Das Rolltor war einen Spalt breit geöffnet, und aus dem grell erleuchteten Inneren meinte sie wieder dieses Wimmern zu hören. Ein dumpfer Schlag. Ein Knurren.

»Wallert, kommen! Vizchen?«, flüsterte sie ins Funkgerät.

Nichts.

»Wallert, Vizchen, kommen!« Sie drückte das Gerät so fest, dass es knarzte, knisterte. Statik. »Verdammte Pisskacke!«

Jessica zog ihre Waffe und bewegte sich auf die Garage zu. An der Hausecke hielt sie noch einmal an, rief die Zentrale.

»Detective Jessica Sanchez, Nummer zwei, sechs, null, sieben, eins, neun. Ich habe einen zehn vierundfünfzig und Code zwei in der Linscott Place vier, sechs, neun, neun, Baldwin Village, wiederhole: Code zwei!«

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Wallert und Vizchen, die sich kaputtlachten. Eine andere Polizistin würde sich vermutlich fragen, warum die beiden nicht reagierten. Ob sie sich in Gefahr befanden. Aber Jessica wusste es besser. Sie hatte Vizchens Worte noch im Ohr, und ihr war klar, dass sie sie die nächsten Wochen über immer wieder hören würde, nachgeplappert von ihren Brüdern auf der Dienststelle. Du bist doch die große Heldin. Niemand würde kommen, um ihr zu helfen. Mit dem Erbe des Hauses in Brentwood hatte sie alle betrogen. Sich als Verräterin entpuppt.

Sie rollte sich unter dem Tor durch, sprang dann rasch wieder auf und richtete die Waffe auf den Täter. Der Mann war groß, selbst in gebückter Haltung, ein bebender Fleischberg, der gebeugte Rücken angespannt unter seiner großen Last. Zuerst dachte sie, die alte Frau und der junge Mann würden sich am Boden küssen. Intim. Seine Lippen an ihrer Kehle. Doch dann sah sie das Blut an seinen Händen, auch sein Gesicht war voll davon, genau wie der Hals des Opfers. Jessica musste an Vampire denken, Zombies, Hexerei, unvorstellbare Dinge, und sie tastete nach dem nächstbesten Gegenstand, ein Pooltisch, um sich daran festzuhalten. In ihrem Verstand herrschte Krieg, zwei Impulse kämpften gegeneinander, wie immer, wenn sie der Schrecken mit voller Wucht erwischte. Eigentlich wollte sie sofort die Flucht ergreifen. Doch sie wollte auch begreifen, was hier geschah. Ein brutaler Angriff. Täter vermutlich unter Drogeneinfluss. Badesalz – die Droge mit dem harmlosen Namen verbreitete seit Wochen auf der Straße Angst und Schrecken, machte die Kids ganz wirr und unberechenbar. Einige hatten sich tatsächlich die Augen rausgerissen. Tiere abgeschlachtet. Sich mit dem Fahrrad geradewegs in den Abgrund gestürzt. Sie hatte es hier mit einem Mann zu tun, der eine Frau bei lebendigem Leib verspeiste.

»Aus! Loslassen!«, rief sie. Irgendwo in ihrem Hinterstübchen registrierte sie, dass sie mit dem Täter wie mit einem Hund sprach. Einem Wolf. Einem Werwolf! »Loslassen! Zurück!«

Der Mann hob das blutverschmierte Gesicht. Die alte Frau zuckte unter seinen Händen, versuchte, ihm zu entkommen. Zu schwach. Fast tot. Die Adern am Körper des Mannes standen unter seiner schweißnassen Haut hervor wie feuchte blaue Seile. Er nahm Jessica gar nicht wahr. War in seiner Fantasie gefangen.

»Zurücktreten oder ich schieße!«

Der Mann hob die Frau an seine Lippen. Jessica feuerte über seinen Kopf. Traf eine Dartsscheibe an der Wand, die mit einem Scheppern auf dem Boden landete. Das Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, er richtete sich auf. Sie schoss ein zweites Mal, traf ihn in die linke Schulter. Der Einschlag verfärbte sein Hemd, die Kugel bohrte sich in seinen Muskel. Er zuckte nicht mal mit der Wimper. Der Mann stürzte auf sie zu, blitzschnell. Wieder drückte sie ab, zwei Kugeln in die Brust. Ein tödlicher Treffer. Der Mann ließ sich nicht aufhalten. Eine Riesenpranke packte sie am Kopf und stieß sie erst gegen die Wand, dann zerrte er sie mit übermenschlicher Kraft zu sich heran.

Sie dachte an Wallert, als der Mann die Zähne in ihren Bizeps schlug. Ihr Kollege, irgendwo da draußen, über sie lachend.

Da packte Jessica ihren Angreifer an den betonharten Schultern und trieb ihm ihr Knie zwischen die Beine. Sie landeten auf dem Boden, rollten herum. Er legte sich auf ihren Rücken, sein Gürtel drückte sich in ihre Hüfte. Wieder biss er zu, erwischte sie am linken Schulterblatt, ihre Bluse riss unter seinen Zähnen. Jessica stemmte sich mit aller Macht am Boden ab und schlug ihm mit dem Ellbogen ins Gesicht. Sein Nasenbein brach mit einem Krachen. Er trieb die Zähne in ihre linke Schulter, biss fest zu, versuchte, ihr das Fleisch vom Knochen zu reißen, eine herzhafte Portion zu erwischen. Als sie in die toten Augen der mittlerweile gestorbenen Frau blickte, musste sie wieder daran denken, dass ihr niemand zu Hilfe kam.

Während der Angreifer versuchte, sich auf sie zu setzen, sah sie ihre Pistole, die sie vor Schreck fallen gelassen hatte. Jessica schnappte sich die Waffe, wand sich unter ihm, und hielt ihm den Lauf an die Stirn, als er erneut zubeißen wollte.

Sie schoss.

Blair