3Elsa Dorlin

Selbstverteidigung

Eine Philosophie der Gewalt

Aus dem Französischen von Andrea Hemminger

Suhrkamp

7Prolog
Was ein Körper vermag

»Ein Gericht in Guadeloupe verfügte mit Urteil vom 11. Brumaire XI (2. November 1802), dass Millet de la Girardière so lange auf dem Place de la Pointe-à-Pitre in einem eisernen Käfig zur Schau gestellt wird, bis der Tod eintritt. Der für diese Folter verwendete Käfig ist acht Fuß hoch. Der darin Eingesperrte befindet sich über einem scharfen Messer; seine Füße sind auf einer Art Steigbügel, und er muss seine Knie durchdrücken, um nicht von dem Messer verletzt zu werden. Auf einem Tisch vor ihm liegt in seiner Reichweite etwas zu essen und zu trinken; doch sorgt eine Wache Tag und Nacht dafür, dass er es nicht anrührt. Wenn die Kräfte des Opfers zu schwinden beginnen, fällt es in die Klinge des Messers, die ihm tiefe und grausame Wunden zufügt. Getrieben vom Schmerz, richtet sich der Unglückliche wieder auf, um erneut in das scharfe Messer zu fallen, das ihn grauenhaft zurichtet. Diese Folter dauert drei bis vier Tage.«1

Bei einem Dispositiv dieser Art findet der Verurteilte den Tod, weil er Widerstand geleistet hat; weil er verzweifelt versucht hat, dem Tod zu entkommen. Die Grausamkeit seiner Folter besteht in der Tatsache, dass jede Bewegung seines Körpers, mit der er sich vor dem Schmerz schützen möchte, zur Folter wird; und vielleicht ist genau das das Charakteristische dieser Vernichtungsprozesse: aus dem kleinsten Schutzreflex einen Schritt zu machen, der zum unerträglichsten Leiden führt. Hier 8geht es nicht darum, die Beispiellosigkeit derartiger Foltern zu diskutieren, die sicher kein Monopol des modernen Kolonialsystems sind. In dieser Szene, wie auch in dem rhetorischen Prozess, der ihre Grausamkeit rekonstruieren möchte, hallt die Geschichte einer anderen Folter nach: die Damiens, die am Anfang von Überwachen und Strafen beschrieben wird.2 Dennoch sind beide vollkommen verschieden. Michel Foucault zeigt, dass mit den Schmerzen, die Damiens Körper zugefügt werden, nicht so sehr auf seine Individualität abgehoben wird, sondern auf den Willen des Souveräns, der in seiner Allmächtigkeit wiederhergestellt wird, wie auch auf die Unterwerfung der Gemeinschaft, der Damiens Verbrechen abträglich war. Die Verstümmelungen mit Zangen und Scheren, die Verbrennungen mit geschmolzenem Blei, siedendem Öl, Wachs, schließlich die Vierteilung mit Pferden ‌… Während dieses ganzen grauenvollen Szenarios ist Damien gefesselt, und niemand vermeint, dass er etwas tun »kann«. Sein Vermögen – so gering es auch sein mag – wird mit anderen Worten nicht berücksichtigt, weil es eben nicht zählt. Der Körper Damiens ist auf ein Nichts reduziert, er ist bereits nichts mehr, abgesehen von dem Theater, in dem sich der Zusammenhalt einer rachsüchtigen Gemeinschaft einstellt, die die Souveränität ihres Königs ritualisiert. Man stellt das völlige Fehlen jeglichen Vermögens zur Schau, um so die Herrlichkeit einer absolut souveränen Macht besser zur Geltung zu bringen.

Im Fall der Folter des Eisenkäfigs ist ebenfalls Publikum da. Allerdings wird mit der öffentlichen Zurschaustellung des Martyriums des Gefolterten etwas anderes verfolgt. Die verwendete Technik scheint auf die Fähigkeit des Subjekts abzuheben, zu (re-)agieren, um es umso besser zu beherrschen. Das eingesetzte Strafdispositiv führt die körperlichen Reaktionen, die Vitalreflexe des Verurteilten vor und löst sie aus, wobei es sie gleichzeitig als das konstituiert, was gleichermaßen das Vermögen und 9die Schwäche des Subjekts ausmacht. Hier muss die strafende Autorität das Subjekt in keinster Weise in Form eines absoluten Unvermögens präsentieren, um sich zu behaupten. Vielmehr gilt, je mehr das Vermögen des Subjekts in seinen wiederholten verzweifelten Versuchen zu überleben in Szene gesetzt wird, desto mehr regiert es die strafende Autorität, die hinter dem Auftritt eines passiven und marionettenhaften Henkers verschwindet. Diese tödliche Regierung des Körpers erfolgt in einer Ökonomie der Mittel, bei der der Gefolterte sich selbst zu töten scheint. Alles ist so konzipiert, dass er dem scharfen Messer, das ihn tödlich zu verletzen droht, physisch standhält: Er muss sich, eingeschlossen in seinen Käfig, auf den Steigbügeln aufrecht halten. So macht das Dispositiv glauben, dass sein Überleben von seiner (muskulären und physischen, aber auch »mentalen«) Stärke abhängt: Er muss sich am Leben erhalten, wenn er nicht noch mehr leiden und sterben möchte. Gleichzeitig ist das einzige Ziel dieser Foltertechnologie, ihn zu töten, aber so dass er umso mehr leidet, je mehr er sich verteidigt. Die um ihn angeordnete Verpflegung kommt einer grausamen Komödie gleich, die zeigt, dass die Folter mit der Effektivität der Vitalbewegungen spielt und versucht, sie vollständig zu kontrollieren, um sie besser zerstören zu können. Ebenso wie ihn die Erschöpfung in die Messerklinge sinken lässt, ist es für ihn unvermeidlich, das unerträgliche Bedürfnis zu essen und zu trinken zu verspüren. Zudem ist der erste Aufschlagpunkt an seinem Körper zweifellos der Intimbereich. Alles läuft so ab, als sei die Arbeit der geschlechtsbezogenen Codierung der Macht vollendet: Das Geschlecht ist weit mehr als irgendein anderer Körperteil zu dem allerletzten Ort geworden, an den sich das Handlungsvermögen des Subjekts verkriecht. Es zu verteidigen bedeutet, sich zu verteidigen. Und es zuerst anzugreifen bedeutet, das zu zerschlagen, womit das Subjekt – nicht de jure, sondern das handlungsfähige Subjekt – eingeführt wurde.

10Dieses Tötungsdispositiv geht davon aus, dass derjenige, der ihm unterworfen ist, etwas tun kann, und es zielt genau auf den letzten Impuls dieses Vermögens in seinen hintersten Winkeln ab, stimuliert es, fördert es, um es in seiner In-Effizienz umso mehr herauszufordern und in Unvermögen zu verwandeln. Diese Machttechnologie produziert ein Subjekt, dessen Handlungsvermögen man »anregt«, um es umso mehr in seiner Heteronomie zu packen: Und dieses Handlungsvermögen wird, obwohl es ganz auf die Verteidigung des Lebens abgestellt ist, darauf reduziert, nichts anderes zu sein als ein Todesmechanismus im Dienst der kolonialen Strafmaschinerie. Hier sieht man, wie ein Herrschaftsdispositiv versucht, die Eigenbewegung des Lebens zu verfolgen und auf das abzuzielen, was es in diesem Impuls noch an Muskelkraft gibt. Die kleinste Geste der Verteidigung und des Schutzes, die kleinste Regung zur Bewahrung und Erhaltung von sich selbst wird in den Dienst der Vernichtung des Körpers gestellt. Diese Macht, die ausgeübt wird, indem sie auf das Vermögen des Subjekts abhebt, das sich in dem Impuls ausdrückt, sein Leben und sich selbst zu verteidigen, konstituiert so die Selbstverteidigung als Ausdruck des physischen Lebens, als das, was ein Subjekt ausmacht, als das, »was das Leben ausmacht«.3

Vom Eisenkäfig bis zu bestimmten modernen und zeitgenössischen Foltertechniken4 kann man zweifellos ein Raster ausmachen, einen vergleichbaren Typus von Machttechniken, den man unter dem Motto zusammenfassen könnte: »Je mehr du dich verteidigst, desto mehr leidest du und desto sicherer stirbst du.« Unter bestimmten Umständen und bei bestimmten Körpern kommt sich zu verteidigen einem Sterben durch Selbstaufzehrung gleich: zu kämpfen heißt, sich vergeblich dagegen zu wehren, geschlagen zu werden. Dieser Mechanismus unglücklichen Handelns hat Folgen für die politischen Mythologien (welches Schicksal ist unserem Widerstand beschieden?), für 11die Vorstellungen von der Welt sowie für die Vorstellungen von sich selbst (was kann ich tun, wenn alles, was ich zu meiner Rettung unternehme, in mein Verderben führt?). So erscheint die gemachte Erfahrung – weniger des eigenen Vermögens als des Zweifels, der Sorge, der Angst, die seine Fehlversuche, seine Grenzen und gegenteiligen Effekte auslösen – insofern als sinnstiftend, als diese Erfahrung nicht mehr so sehr eine Frage der äußeren Gefahr, der Bedrohung oder eines Feindes ist, wie schrecklich sie auch sein mögen, sondern ein Spiegeleffekt von der eigenen Aktion und Reaktion, von sich selbst. Die Originalität derartiger Techniken besteht mithin in der unaufhaltsamen Arbeit der erzwungenen Einverleibung dieser tödlichen Dimension des Vermögens des Subjekts, was auf seine Suspension hinausläuft, als einzigen Ausweg, sich am Leben zu erhalten; in dem Moment, in dem das Subjekt den Antrieb zur Selbstverteidigung bekundet, wird dieser zur Drohung und Verheißung des Todes.

Diese Ökonomie der Mittel, die aus dem Verurteilten und, allgemeiner gesagt, aus dem geschundenen Körper seinen eigenen Henker macht, beschreibt in negativer Form das Charakteristische des modernen Subjekts. Dieses wurde zwar durch seine Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, definiert, worauf wir noch zurückkommen werden, doch wurde diese Fähigkeit zur Selbstverteidigung auch zu einem Kriterium, das dazu dient, zwischen denjenigen zu unterscheiden, die vollgültige Subjekte sind, und den anderen: jenen, bei denen es darum geht, die Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu schwächen und zu zerstören, sie als abwegig und unrechtmäßig darzustellen – jenen, die bei der Verteidigung ihres Körpers der Gefahr ausgesetzt werden zu sterben, um ihnen so ihr radikales Unvermögen, sich selbst zu verteidigen, besser einschärfen zu können.

Hier wird das Handlungsvermögen, weit mehr als der Körper selbst, ganz klar zum Ziel und gleichzeitig zu etwas, was die 12Macht auf den Plan ruft. Diese Regierung der Verteidigung erschöpft, erhält, behandelt, reizt an und tötet in einem komplexen Mechanismus. Nach einer kunstvoll abgestuften Skala verteidigt sie bestimmte Leute und belässt andere ohne Verteidigung. Ohne Verteidigung zu sein bedeutet hier nicht, »keine Macht mehr ausüben zu können«, sondern vielmehr die Erfahrung eines Handlungsvermögens zu machen, das sich nicht mehr in der Polarität bewegt.5 Unser Handlungsvermögen verkehrt sich in der Situation größter Todesgefahr nicht in einen autoimmunen Reflex. Es geht nicht mehr nur darum, das Handeln von Minoritäten direkt zu vereiteln, wie bei der souveränen Repression, noch geht es darum, sie einfach sterben zu lassen, ohne Schutz, wie im Rahmen der Biomacht. Hier geht es darum, bestimmte Subjekte dazu zu bringen, sich als Subjekte auszulöschen, ihr Handlungsvermögen anzureizen, um sie besser in ihr eigenes Verderben treiben und darauf abrichten zu können. Wesen zu produzieren, die sich umso mehr zugrunde richten, je mehr sie sich verteidigen.

3. März 1991, Los Angeles. Rodney King, ein junger afroamerikanischer Taxifahrer von 26 Jahren, wird von drei Polizeiautos und einem Polizeihubschrauber gestoppt, die ihn auf der Autobahn aufgrund einer Geschwindigkeitsüberschreitung verfolgen sollten. Als er sich weigert, aus seinem Fahrzeug auszusteigen, wird er mit einer an sein Gesicht gehaltenen Feuerwaffe bedroht. Einige Sekunden später fügt er sich und legt sich schließlich auf den Boden; ihm werden mit einem Taser Elektroschocks verabreicht; und als er dann aufzustehen und sich zu schützen versucht, um zu verhindern, dass ihn ein Polizist schlägt, wird mit Schlagstöcken dutzendfach auf sein Gesicht und seinen Körper brutal eingeprügelt. Gefesselt wird er bewusstlos liegen gelassen, Schädel und Kiefer sind mehrfach gebrochen, ein Teil des Mundes und des Gesichts ist zerfetzt, er 13hat offene Wunden und einen gebrochenen Knöchel; erst Minuten später trifft ein Krankenwagen ein, der ihn ins Krankenhaus bringt.

Die Lynchszene von Rodney King kann dank eines Amateurvideos Sekunde für Sekunde beschrieben werden. Es wurde von einem Zeugen aufgenommen, George Holliday,6 der an diesem Abend von seiner Wohnung aus, von der man auf die Autobahn sehen kann, etwas eingefangen hat, was einem Archiv heutiger Herrschaft ähnelt. Noch am selben Abend wird das Video über die Fernsehkanäle verbreitet und geht alsbald um die Welt. Ein Jahr später beginnt vor einem Geschworenengericht der Prozess gegen die vier Polizisten, die am unmittelbarsten an den Prügeln von Rodney King beteiligt waren (insgesamt wurden mehr als zwanzig festgenommen). Die Anklage lautet auf »übermäßige Gewaltanwendung«. Bei der Auswahl der Geschworenen wurden von den Strafverteidigern alle Afroamerikaner abgelehnt, die Jury (bestehend aus zehn Weißen, einem Lateinamerikaner und einem Sinoamerikaner) wird die Polizisten nach einem fast zweimonatigen Prozess freisprechen. Nach der Verkündung des Urteils entbrennen die berühmten »Unruhen von Los Angeles«:7 sechs Tage Revolte in der Stadt, bei der die bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften (Polizei und Armee) 63 Tote und mehr als 2000 Verletzte fordern.

Abgesehen von dem Urteil, das die Polizisten im wahrsten Sinne weißwäscht,8 ist der Verlauf der Debatten und die Darlegung der Gründe, die die Geschworenen dazu brachten, die vier Angeklagten freizusprechen, aufschlussreich: Die Verteidigungslinie ihrer Anwälte bestand darin, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass die Polizisten in Gefahr waren. Ihnen zufolge fühlten sie sich angegriffen und machten nichts anderes, als sich gegen einen »Riesen« zu verteidigen (Rodney King war über 1 m 90 groß), der sie sogar noch am Boden schlug und un14ter dem Einfluss einer Droge stand, die ihn »gegen Schläge unempfindlich machte«. Einige Monate später wird Rodney King bei dem zweiten Prozess erklären, dass er »nur versuchte, am Leben zu bleiben«.9 Diese Schuldumkehr ist hier die zentrale Frage. Beim ersten Prozess haben die Anwälte der Polizisten nur einen einzigen Hauptbeweis vorgelegt und ausgewertet: das Video von George Holliday. Derselbe Film, der in der Öffentlichkeit als Beleg für die Brutalität der Polizei angesehen wurde, wurde von ihnen ausgeschlachtet, um im Gegenteil zu suggerieren, dass die Polizisten von Rodney King »bedroht« wurden. Im Gerichtssaal wird das von den Geschworenen angesehene und von den Anwälten der Ordnungskräfte kommentierte Video als Notwehr-Szene betrachtet, die von der »Verwundbarkeit« der Polizisten zeugt. Wie ist eine solche Diskrepanz der Interpretation zu verstehen? Wie können dieselben Bilder Anlass für zwei grundverschiedene Versionen und Opfer sein, je nachdem, ob man ein weißer Geschworener in einem Gerichtssaal oder ein gewöhnlicher Zuschauer ist?10

Diese Frage stellt Judith Butler in einem Text, der wenige Tage nach dem Urteil verfasst wurde. Sie lenkt hier die Aufmerksamkeit nicht auf die divergierenden Interpretationen, um zu entscheiden, »wer Opfer ist«, sondern auf die Bedingungen, unter denen bestimmte Sichtweisen die Individuen veranlassen zu glauben, dass Rodney King ein Opfer von Lynchjustiz ist oder dass die Polizisten Opfer eines Angriffs sind. Aus einer Fanon'schen Perspektive, auf die sie sich beruft, vertritt Butler die Ansicht, dass nicht die Logik der widerstreitenden Meinungen Gegenstand einer kritischen Analyse sein muss, sondern der Verständnisrahmen der Wahrnehmungen, die nie unmittelbar sind. Das Video ist nicht als eine nackte Tatsache, als eine zu interpretierende Materie zu begreifen, sondern als Ausdruck eines »rassegesättigten Feldes der Sichtbarkeit«.11 Anders gesagt, bestimmt die rassiale Schematisierung der Wahrnehmungen sowohl die 15Erzeugung des Wahrgenommenen als auch das, was das Wahrnehmen besagen möchte: »Wie kann man über diese Verkehrung der Geste und Absicht in den Begriffen der rassialen Schematisierung des Feldes der Sichtbarkeit Klarheit gewinnen? Handelt es sich um eine spezifische Umwertung des Handelns (agency), die für eine rassialisierte Episteme typisch ist? Und wirft die Möglichkeit einer solchen Verkehrung nicht die Frage auf, ob das, was »gesehen wird, nicht schon immer zum Teil eine Frage dessen ist, was eine bestimmte rassistische Episteme als sichtbar produziert«?12 Somit muss man nach diesem Prozess fragen, nach dem, wodurch die Wahrnehmungen sozial erzeugt werden, produziert von einem Korpus, das jeden möglichen Erkenntnisakt weiterhin beherrscht.13

Rodney King wird unter Absehung von jeglicher Notlage oder jeglichen Ausdrucks der Wehrlosigkeit als angreifender Körper gesehen, und er nährt das »Phantasma der Aggression weißer Rassisten«.14 Im Gerichtssaal kann er in den Augen der weißen Geschworenen nur als »Agent der Gewalt« gesehen werden. Ebenso wie zu Unrecht sexueller Übergriffe beschuldigte ehemalige Sklaven oder Nachkommen von Sklaven in der gesamten Zeit der Segregation auf der Straße verfolgt, aus ihren Gefängniszellen oder Häusern gezerrt, gefoltert und umgebracht wurden. Ebenso wie heute afroamerikanische oder von Afrikanern abstammende Jugendliche und junge Erwachsene auf offener Straße verprügelt oder getötet werden. Die Wahrnehmung Rodney Kings als angreifender Körper ist sowohl Voraussetzung als auch unausgesetzte Folge der Projektion einer »weißen Paranoia«.15

Bilder sprechen nie von selbst, was in einer Welt, in der die Darstellung von Gewalt zu den beliebtesten Stoffen der visuellen Kultur gehört, sehr wichtig ist.16 Ganz am Anfang von Hollidays Video sieht man Rodney King aufrecht, er geht auf einen Polizisten zu, der versucht, ihn zu schlagen, und streckt seine 16Arme nach vorne: Diese Geste zu seinem Schutz wird systematisch als Drohgebärde angesehen werden, die bereits eine eindeutige Aggression darstellt. Wie Kimberlé Crenshaw und Gary Peller darlegen, bestand die von den Anwälten der Polizisten eingesetzte Technik darin, das Video in einzelne Standbilder zu zerlegen und die Bilder immer wieder anzuhalten, die dann isoliert voneinander Stoff für endlose Interpretationen boten. Indem sie die widersprüchlichen Berichte über eine Szene vervielfachten, die aufgesplittert und von dem sozialen Kontext getrennt wurde, in dem und durch den sie sich ereignete, gelang es den Anwälten der Polizei, den Sinn der Bildsequenz in ihrer Gesamtheit zu vernebeln und zu »zersetzen«.17 Auch wenn dieses Video für einen Teil der Bürger (Schwarze, aber auch Weiße) einen erdrückenden Beweis für die Brutalität der Polizei darstellen konnte, konnten die Anwälte im Gerichtssaal behaupten, dass es nichts gibt, was auf eine übermäßige Gewaltanwendung schließen lässt. Die Polizisten hatten von der Gewalt »einen angemessenen Gebrauch« gemacht. Der Moment, in dem die Brutalität der Polizei ihren Höhepunkt erreicht, in der 81. Sekunde der Aufnahme, wurde so zu einer Notwehr-Szene gegen einen Rasenden.

Die Wahrnehmung der Polizeigewalt hängt nicht nur von einem Verständnisrahmen ab, der der Vergangenheit entstammt, vielmehr wird dieser Rahmen ständig von materiellen und diskursiven Machttechniken aktualisiert, die unter anderem darin bestehen, die Wahrnehmung der Ereignisse gesellschaftlicher und politischer Kämpfe auszuschließen, die just dazu beitragen, sie an der Geschichte festzumachen und andere Wahrnehmungs- und Verständnisrahmen für die erlebte Erfahrung auszubilden.

Indem sich Rodney King gegen die Polizeigewalt verteidigte, wurde er unverteidigbar. Er wurde mit anderen Worten umso mehr als Aggressor wahrgenommen, je mehr er sich verteidigte und je mehr er geschlagen wurde. Die Sinnverkehrung von An17griff und Verteidigung, Aggression und Schutz in einem Rahmen, der strukturell erlaubt, ihre legitimen Elemente und Agenten zu bestimmen, egal, wie ihre Gesten tatsächlich beschaffen waren, transformiert diese Handlungen in anthropologische Eigenschaften, die eine Farbgrenze zu markieren vermögen, die die so formierten Körper und sozialen Gruppen diskriminiert. Diese Trennlinie grenzt nicht nur bedrohliche/aggressive Körper und defensive Körper voneinander ab. Vielmehr trennt sie diejenigen, die Handelnde sind (Agenten ihrer eigenen Verteidigung), und diejenigen, die eine vollkommen negative Form von Handlungsvermögen bezeugen, insofern sie nur Agenten »reiner« Gewalt sein können. So wird Rodney King, wie jeder von einer rassistischen Polizei zur Überprüfung der Personalien angehaltene afroamerikanische Mann, als Handelnder anerkannt, jedoch einzig als Agent der Gewalt, als gewalttätiges Subjekt, unter Ausschluss jeglichen anderen Handlungsbereichs. Für diese Gewalt werden immer die schwarzen Männer verantwortlich gemacht: Sie sind ihre Ursache und ihre Wirkung, ihr Anfang und ihr Ende.18 Aus diesem Blickwinkel wurden die Schutzreflexe Rodney Kings, seine ungeordneten Gesten, um am Leben zu bleiben (er schlägt mit den Armen um sich, taumelt, versucht wieder aufzustehen, kniet), als von ihm ausgehende »totale Kontrolle« und als Beleg für eine »gefährliche Absicht« eingestuft,19 so als könne die Gewalt die einzige willentliche Handlung eines schwarzen Körpers sein,20 womit man ihm de facto jegliche legitime Verteidigung absprach. Indem bestimmten Gesellschaftsgruppen, die zu »Risikogruppen« aufgebaut werden, dieses ausschließlich disqualifizierte und disqualifizierende gewalttätige Handeln, dieses negative Handlungsvermögen zugeschrieben wird, soll verhindert werden, dass die Polizeigewalt als Aggression wahrgenommen wird. Da die Körper, die zur Minderheit gemacht wurden, eine Bedrohung sind, da sie eine Gefahrenquelle sind, Agenten jedweder möglichen 18Gewalt, kann man die ständig auf sie ausgeübte Gewalt, angefangen bei der von Polizei und Staat, nie als die unerhörte Gewalt ansehen, die sie ist: sie ist sekundär, schützend, defensiv – eine Reaktion, eine immer schon legitimierte Antwort.

Im Fall der Folter des Eisenkäfigs haben wir, indem wir das Augenmerk auf das Handlungsvermögen des Körpers richteten, einerseits gezeigt, wie eine bestimmte Machttechnologie dieses Vermögen in Unvermögen verwandelte (je mehr man kämpft, um dem Leiden zu entkommen, desto mehr wird man von ihm aufgerieben), und andererseits, worin die vom Subjekt zum Überleben entfaltete Selbstverteidigung heimtückischerweise zu dem wurde, was es ausgelöscht hat. So wurde die Selbstverteidigung für den Widerstand leistenden Körper unweigerlich impraktikabel. Im Falle Rodney Kings zeigt sich eine andere Komponente. Hier geht es nicht mehr nur um das Handlungsvermögen: Was zur Debatte steht, ist auch die Überprüfung der Person – die moralische und politische Einstufung –, die Anerkennung von »Rechtssubjekten« oder vielmehr von Subjekten, die ein Recht auf Selbstverteidigung haben oder nicht. King kann nicht als ein Körper wahrgenommen werden, der sich verteidigt, er wird a priori als ein Agent der Gewalt angesehen. Die Möglichkeit, sich zu verteidigen, ist das ausschließliche Privileg einer herrschenden Minderheit. Im Fall der Lynchung von Rodney King wird der Staat – in Form seiner bewaffneten Arme und seiner Repräsentanten – nicht als gewalttätig wahrgenommen, vielmehr ist man der Ansicht, dass er auf die Gewalt reagiert, er verteidigt sich gegen die Gewalt. Für Rodney King, aber auch für jeden anderen Körper, der ein Opfer der Rhetorik von der Notwehr und dieser Sichtweise ist, gilt hingegen, je mehr er sich verteidigt hat, desto mehr wurde er unverteidigbar.

Millet de la Girardière hätte sich verteidigen können, doch indem er sich verteidigte, wurde er verteidigungslos. Rodney 19King hat sich verteidigt, doch indem er sich verteidigte, wurde er unverteidigbar. Dies sind die beiden Unterwerfungslogiken, die auf dieselbe unglückliche Subjektivierung hinauslaufen, die es in diesem Buch zu begreifen gilt, und zwar angesichts einer Machttechnologie, die diese Verteidigungslogik zur Sicherung ihres eigenen Fortbestands so stark einsetzt wie nie zuvor.

Davon ausgehend könnte man versuchen, ein bestimmtes Dispositiv der Macht zu identifizieren, das ich als »Verteidigungsdispositiv« bezeichnen würde. Wie verfährt es? Es zielt auf das ab, was die Kraft, den Impetus, den polarisierte Antrieb zur eigenen Verteidigung zur Geltung bringt, indem es bei bestimmten Personen ihre Bahn in einem Rahmen absteckt, der die Verteidigung fördert und legitimiert oder im Gegenteil bei anderen ihren Vollzug, ja selbst ihre Möglichkeit verhindert, indem es diesen Impetus zu etwas Unbeholfenem, Unentschlossenem oder Gefährlichem macht, das für die anderen wie für einen selbst bedrohlich ist.

Dieses zweischneidige Verteidigungsdispositiv zieht eine Demarkationslinie zwischen Subjekten, die würdig sind, sich selbst zu verteidigen und verteidigt zu werden, auf der einen Seite und Körpern, die zu defensiven Taktiken gezwungen sind, auf der anderen Seite. Diesen verwundbaren und misshandelbaren Körpern wird nur mit bloßen Händen eine Subjektivität zuteil. In und mit der Gewalt in Schach gehalten, leben oder überleben sie nur, wenn es ihnen gelingt, sich Taktiken zur Verteidigung zuzulegen. Diese subalternen Praktiken bilden das, was ich als Selbstverteidigung im eigentlichen Sinne bezeichne, im Gegensatz zum juristischen Begriff der Notwehr. Im Unterschied zu Letzterem hat die Selbstverteidigung paradoxerweise kein Subjekt – womit ich sagen will, dass das Subjekt, das sich verteidigt, vor der Initiative, gegen die Gewalt Widerstand zu leisten, zu deren Zielscheibe es geworden ist, nicht existierte. So verstanden, kommt die Selbstverteidigung dem gleich, was man, so 20mein Vorschlag, als »Kampfethiken des Selbst« bezeichnen kann.

Wenn man dieses Dispositiv an den Punkten aufspürt, an denen es aufgekommen ist, nämlich in einer kolonialen Situation, kann man die Prozesse der monopolistischen Aneignung der Gewalt durch Staaten hinterfragen, die für sich den legitimen Gebrauch physischer Gewalt in Anspruch nehmen: Eher als von einem Monopol könnte man von einer Herrschaftsökonomie der Gewalt sprechen, die paradoxerweise die Personen verteidigt, denen schon immer das Recht zugestanden wurde, sich selbst zu verteidigen. Diese Ökonomie behauptet die Legitimität bestimmter Subjekte, physische Gewalt zu gebrauchen, überträgt ihnen den Machterhalt und die Gerichtsbarkeit (die Selbstjustiz) und räumt ihnen die Erlaubnis zum Töten ein.

Doch geht es hier nicht nur um die grundlegende Unterscheidung zwischen »verteidigten Subjekten« und »verteidigungslosen Subjekten«, zwischen Subjekten, die das Recht haben, sich zu verteidigen, und Subjekten, die nicht das Recht haben, dies zu tun (und dadurch unverteidigbar werden). Es gibt noch eine subtilere Staffelung. Denn man muss hinzufügen, dass die Regierung der Körper im Maßstab der Muskeln erfolgt. Gegenstand dieser Regierungskunst ist der Nervenimpuls, die Muskelkontraktion, die kinästhetische Körperspannung, die Entladung hormoneller Flüssigkeiten; sie wirkt auf das ein, was ihn anregt oder hemmt, was ihn agieren lässt oder ihm entgegenwirkt, was ihn zurückhält oder erregt, was ihn sichert oder erschüttert, was bewirkt, dass er zuschlägt oder nicht zuschlägt.

Mehr vom Muskel als vom Gesetz auszugehen würde die Art und Weise, in der die Gewalt im politischen Denken problematisiert wurde, jedoch zweifellos verschieben. Dieses Buch konzentriert sich auf die Momente des Übergangs zur defensiven Gewalt, auf die Momente, über die, wie mir scheint, keine 21Klarheit zu gewinnen ist, wenn man sie einer politischen und moralischen Analyse unterzieht, die um die Fragen der »Legitimität« kreist. In jedem Moment des Übergangs zur defensiven Gewalt geht es um nichts anderes als um das Leben: nicht sofort getötet zu werden. Die physische Gewalt wird hier als Lebensnotwendigkeit und als Widerstandspraxis gedacht.

Die Geschichte der Selbstverteidigung ist ein Abenteuer, bei dem unaufhörlich zwei Pole, zwei antagonistische Ausdrucksformen der Verteidigung von »sich« einander gegenübergestellt werden: einerseits die herrschende juridisch-politische Tradition der legitimen Verteidigung, die mit einer Unzahl von Machtpraktiken mit unterschiedlichen Formen von Brutalität verbunden ist, die es hier auszugraben gilt, und andererseits die verschüttete Geschichte der »Kampfethiken des Selbst«, die die politischen Bewegungen und die zeitgenössischen Gegenbewegungen durchzogen haben und eine erstaunliche Beständigkeit des defensiven Widerstands zum Ausdruck bringen, die ihre Stärke ausmacht.

Ich möchte in diesem Buch der Geschichte der Selbstverteidigungskonstellationen nachgehen, und zwar nicht, indem ich die markantesten Beispiel herauspicke, sondern indem ich die Erinnerung an jene Kämpfe erforsche, bei denen die Körper der Beherrschten die Hauptarchive darstellen: die synkretistischen Kenntnisse und Kulturen der Selbstverteidigung der Sklaven, die Praxis der feministischen Selbstverteidigung, die in Osteuropa von jüdischen Organisationen gegen die Pogrome entwickelten Kampftechniken ‌…

Mit der Öffnung dieser Archive, die noch viele andere Erzählungen enthalten, erhebe ich nicht den Anspruch, Geschichtsschreibung zu betreiben, sondern es geht mir darum, an einer Genealogie zu arbeiten. An diesem äußerst dunklen Himmel leuchtet die Konstellation infolge von Nachklängen, Schreiben, Testamenten, zitierten Berichten auf, die die verschiedenen 22Lichtpunkte vorsichtig und subjektiv miteinander verbinden. Die entscheidenden Texte, die das Fundament der Philosophie der Black Panther Party for Self Defense bilden, würdigen die Aufständischen des Warschauer Ghettos; die Queer-Selbstverteidigungspatrouillen stehen in einem zitathaften Zusammenhang mit den Bewegungen der schwarzen Selbstverteidigung; das Jiu-Jitsu, das die internationalistischen anarchistischen englischen Suffragetten praktizierten, wurde ihnen zum Teil aufgrund der imperialen Politik der Aneignung des Wissens und Know-hows der Kolonisierten durch deren Entwaffnung zugänglich.

Meine eigene Geschichte, meine körperliche Erfahrung waren das Prisma, durch das ich dieses Archiv gehört, gesehen und gelesen habe. Meine theoretische und politische Kultur hinterließen mir als Erbe die Grundidee, dass sich die Machtverhältnisse in situ nicht immer gänzlich auf bereits kollektive Auseinandersetzungen beschränken können, sondern in der Intimität eines Schlafzimmers, in einem Metroschacht, hinter der augenscheinlichen Ruhe eines Familientreffens ‌… erlebte Herrschaftserfahrungen berühren. Für manche endet mit anderen Worten die Frage der Verteidigung nicht, wenn der markanteste Moment der politischen Mobilisierung vorüber ist, sondern sie gehört zu einer kontinuierlich erlebten Erfahrung, einer Phänomenologie der Gewalt. Dieser feministische Ansatz erfasst anhand des Rasters der Machtverhältnisse das, was traditionell als jenseits oder außerhalb der Politik angesehen wird. Indem ich diese Verschiebung vornehme, möchte ich nicht auf der Ebene der bestehenden politischen Subjekte arbeiten, sondern auf der Ebene der Politisierung der Subjektivitäten: im Alltag, in der Intimität der sich in uns befindenden Affekte der Wut, in der Einsamkeit erlebter Erfahrungen der Gewalt, gegen die man eine ständige Selbstverteidigung betreibt, ohne dass diese als solche auftritt. Was macht die Gewalt Tag für Tag mit unse23rem Leben, unserem Körper, unseren Muskeln? Und was können diese ihrerseits innerhalb und mit der Gewalt sowohl tun als auch nicht tun?