MARCEL PROUST

AUF DER SUCHE
NACH DER
VERLORENEN ZEIT 1
UNTERWEGS
ZU SWANN

SUHRKAMP

Originaltitel:

À la recherche du temps perdu.

Du côté de chez Swann

Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens;

revidiert von Luzius Keller.

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© für diese deutschsprachige Ausgabe

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1994

Alle Rechte vorbehalten

www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-74260-0

UNTERWEGS ZU SWANN

Für Monsieur Gaston Calmette.

Zum Zeugnis für

tiefe und herzliche Dankbarkeit.1

ERSTER TEIL

COMBRAY

I

Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.1 Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht, fielen mir die Augen so rasch zu, daß keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafe ein. Und eine halbe Stunde später weckte mich der Gedanke, daß es Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fortlegen, das ich noch in Händen zu halten wähnte, und das Licht ausblasen; im Schlaf hatte ich weiter über das eben Gelesene nachgedacht, dieses Nachdenken aber hatte eine eigentümliche Wendung genommen: mir war, als sei ich selbst es, wovon das Buch sprach – eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz I. und Karl V.2 Diese Vorstellung hielt noch einige Sekunden nach meinem Erwachen an; mein Verstand stieß sich nicht an ihr, doch lag sie mir wie Schuppen auf den Augen und hinderte diese zu erkennen, daß die Leuchte nicht mehr brannte. Dann wurde sie mir immer unbegreiflicher, wie nach der Seelenwanderung das in einer früheren Existenz Gedachte; das Thema des Buches löste sich von mir, ich war frei, mich damit zu befassen oder nicht; bald gewann ich mein Sehvermögen zurück und war höchst erstaunt, um mich her eine Dunkelheit vorzufinden, die für meine Augen, aber mehr noch vielleicht für meinen Geist angenehm und erholsam war, dem sie wie etwas Grundloses, Unbegreifliches, wie etwas wahrhaft Dunkles erschien. Ich fragte mich, wie spät es wohl sei, ich hörte das Pfeifen der Züge, das bald nah, bald fern wie der Gesang eines Vogels im Wald die Entfernungen deutlich machte und mir die Weite des öden Landes beschrieb, wo der Reisende der nächsten Station entgegeneilt; und der schmale Weg, dem er folgt, wird sich seinem Gedächtnis einprägen durch die Erregung, die er neuen Orten verdankt, ungewohnten Handlungen, dem eben stattgefundenen Gespräch und dem Abschied unter der fremden Lampe, der ihm in der Stille der Nacht noch nachgeht, dem bevorstehenden Glück der Heimkehr.

Zärtlich drückte ich meine Wangen an die schönen Wangen des Kissens, die rund und frisch sind wie die Wangen unserer Kindheit. Ich strich ein Zündholz an und schaute auf die Uhr. Bald Mitternacht. Dies ist der Augenblick, da der Kranke, der verreisen und in einem unbekannten Hotel übernachten mußte, wenn er von einem Anfall geweckt wird, sich freut, unter der Tür einen Lichtstreifen zu bemerken. Gottlob, schon Morgen! Gleich wird das Hauspersonal auf sein, wird er schellen können, wird man ihm Hilfe bringen. Das Hoffen auf Erleichterung gibt ihm Mut zu leiden. Hat er nicht eben Schritte gehört? Die Schritte kommen näher, entfernen sich wieder. Und der Lichtstreifen unter der Tür ist verschwunden. Es ist Mitternacht; man hat soeben das Gaslicht gelöscht; der letzte Dienstbote ist fort, und nun gilt es, unabänderlich die ganze Nacht hindurch zu leiden.

Ich schlief wieder ein und wachte dann manchmal nur noch für Augenblicke auf, gerade lang genug, um das organische Knacken der Täfelung zu vernehmen, die Augen zu öffnen und auf das Kaleidoskop der Dunkelheit zu richten, dank einem kurzen Aufschimmern des Bewußtseins den Schlaf zu kosten, in den die Möbel versunken waren, das Zimmer, dies Ganze, von dem ich nur ein kleiner Teil war und in dessen Fühllosigkeit ich gleich wieder einging. Oder ich war im Schlaf mühelos in eine für immer vergangene Zeit meines frühesten Lebens zurückgekehrt, hatte irgendeine meiner Kindheitsängste wiedergefunden, wie jene, mein Großonkel würde mich an den Locken ziehen, eine Angst, die der Tag, an dem man sie mir abschnitt – für mich der Beginn einer neuen Ära –, zum Verschwinden gebracht hatte. Während des Schlafs hatte ich dieses Ereignis vergessen; sobald es mir gelungen war aufzuwachen, um den Fängen meines Onkels zu entwischen, kam mir die Erinnerung daran wieder, doch vorsichtshalber grub ich den Kopf tief in mein Kissen, bevor ich in die Welt der Träume zurückkehrte.

Wie Eva aus einer Rippe Adams, so entstand manchmal, während ich schlief, aus einer falschen Lage meiner Schenkel eine Frau. Sie war ein Gebilde der Lust, die in mir hochstieg, doch stellte ich mir vor, diese Lust würde mir von ihr geschenkt. Mein Körper, der in dem ihren meine eigene Wärme spürte, wollte sich damit vereinen, ich wachte auf. Die übrige Menschheit erschien mir weit in die Ferne gerückt im Vergleich zu dieser Frau, die ich vor Sekunden erst verlassen hatte; meine Wange glühte noch von ihrem Kuß, mein Körper war wie zerschlagen von der Last ihrer Gestalt. Wenn sie, wie es bisweilen vorkam, die Züge einer Frau trug, die ich im Leben getroffen hatte, gab ich mich ganz dem einen Ziel hin: sie wiederzufinden, wie jene, die sich auf eine Reise begeben, um mit eigenen Augen die Stadt ihrer Sehnsucht zu schauen, und sich einbilden, man könne irgendwo in der Wirklichkeit den Zauber des Traums erleben. Allmählich verblaßte die Erinnerung an sie, ich hatte das Geschöpf meines Traums vergessen.

Im Schlaf versammelt der Mensch um sich im Kreise den Lauf der Stunden, die Ordnung der Jahre und der Welten.1 Er zieht sie instinktiv zu Rate, wenn er aufwacht, und liest in einer Sekunde daraus ab, an welchem Punkt der Erde er sich befindet, wieviel Zeit bis zu seinem Erwachen verflossen ist; doch können ihre Ordnungen durcheinandergeraten, sie können zusammenbrechen. Wenn ihn beispielsweise gegen Morgen, nachdem er eine Weile schlaflos dagelegen hat, beim Lesen der Schlummer in einer ganz anderen als der normalen Schlafstellung überfällt, dann genügt das Heben eines Arms, um die Sonne in ihrem Lauf anzuhalten und rückwärts gehen zu lassen2 : er verliert sein Zeitgefühl, und in der ersten Minute seines Erwachens wird er meinen, er sei eben erst zu Bett gegangen. Oder wenn er in einer noch unüblicheren und ausgefalleneren Stellung einschlummert, etwa nach dem Abendessen in einem Lehnstuhl, dann ist das Durcheinander in den aus der Bahn geworfenen Welten vollkommen, der Zaubersessel trägt ihn in Windeseile durch Zeit und Raum dahin3, und in dem Augenblick, da er die Lider öffnet, ist ihm, als liege er einige Monate früher in einer anderen Gegend. Doch es genügte, daß ich in meinem eigenen Bett tief schlief und mein Geist sich dabei völlig entspannte, damit ihm der Lageplan des Ortes entglitt, an dem ich eingeschlafen war; und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand und deshalb im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war; ich verspürte nur, ursprünglich, elementar, jenes Daseinsgefühl, wie es in einem Tier beben mag; ich war entblößter als ein Höhlenmensch; doch dann kam mir die Erinnerung – noch nicht an den Ort, an dem ich mich befand, wohl aber an einige andere, an denen ich gewohnt hatte und wo ich hätte sein können – gleichsam als Hilfe von oben her, um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich von selbst nicht herausgefunden hätte; in einer Sekunde überflog ich Jahrtausende der Menschheitsgeschichte, und die verschwommen und flüchtig geschauten Bilder von Petroleumlampen und von Hemden mit Umlegekragen fügten nach und nach die originären Züge meines Ich wieder zusammen.

Vielleicht wird die Unbeweglichkeit der Dinge um uns diesen durch die Unbeweglichkeit unseres Denkens ihnen gegenüber aufgezwungen, durch unsere Gewißheit, daß sie es sind und keine anderen. Jedenfalls, wenn ich in dieser Weise erwachte und mein Geist erfolglos herauszufinden suchte, wo ich mich befand, kreiste in der Dunkelheit alles um mich herum, die Dinge, die Länder, die Jahre. Noch zu benommen vom Schlaf, um sich zu rühren, suchte mein Körper nach der Art seiner Müdigkeit die Stellung seiner Glieder auszumachen, um daraus die Richtung der Wand, den Platz der Möbel abzuleiten, um die Wohnung, in der er sich befand, im Geiste wiederherzustellen und zu benennen. Sein Gedächtnis, das Gedächtnis seiner Rippen, seiner Knie, seiner Schultern, zeigte ihm nacheinander mehrere Zimmer, in denen er geschlafen hatte, während rings um ihn her die unsichtbaren Wände je nach der Form des vorgestellten Raums ihre Lage änderten und sich wirbelnd in der Finsternis drehten. Und bevor noch mein Denken, das an der Schwelle der Zeiten und Formen zögerte, die Umstände zusammengebracht und damit die Räumlichkeiten bestimmt hatte, erinnerte er – mein Körper – sich von einer jeden an die Art des Bettes, die Lage der Türen, die Fensteröffnungen, das Vorhandensein eines Flurs, zusammen mit dem Gedanken, den ich dort beim Einschlafen hatte und beim Erwachen wiederfand. Wenn meine versteifte Seite ihre Lage zu bestimmen suchte und sich zum Beispiel längs der Wand ausgestreckt in einem großen Himmelbett wähnte, sagte ich mir: Schau, nun bin ich am Ende doch eingeschlafen, obwohl mir Mama nicht gute Nacht gesagt hat; ich war auf dem Lande bei meinem Großvater, der seit langen Jahren tot ist; und mein Körper, die Seite, auf der ich lag, treue Bewahrer einer Vergangenheit, die mein Geist niemals hätte vergessen sollen, riefen mir die Flamme der urnenförmigen Nachtlampe aus böhmischem Glas, die an dünnen Ketten von der Zimmerdecke hing, ins Gedächtnis zurück, den Kamin aus Sienamarmor in meinem Schlafzimmer in Combray bei meinen Großeltern, aus fernen Tagen, die mir in diesem Augenblick gegenwärtig schienen, ohne daß ich sie mir genau vorstellte, und die ich etwas später, wenn ich völlig wach wäre, wieder genauer vor mir sähe.

Dann tauchte die Erinnerung an eine weitere Stellung auf; im Nu nahm die Wand eine andere Richtung; ich war in meinem Zimmer bei Madame de Saint-Loup auf dem Lande. Mein Gott!1 Es ist mindestens zehn Uhr, sicher sind sie längst mit dem Abendessen fertig! Ich habe wohl die allabendliche Siesta zu sehr ausgedehnt, die ich nach meinem Spaziergang mit Madame de Saint-Loup halte, bevor ich mich für den Abend umkleide. Denn viele Jahre sind vergangen seit Combray, wo ich, so spät wir auch nach Hause zurückkehrten, stets noch den roten Widerschein des Sonnenuntergangs auf den Scheiben meines Fensters erblickte. In Tansonville, bei Madame de Saint-Loup, führt man ein anderes Leben, finde ich eine andere Art von Vergnügen, wenn ich nur des Nachts hinausgehe, im Mondschein jenen Wegen folge, auf denen ich einst im Sonnenschein spielte; und das Zimmer, in dem ich wohl eingeschlafen bin, anstatt mich zum Abendessen umzukleiden – von weitem erkenne ich es, wenn wir nach Hause zurückkehren, vom Lichtstrahl der Lampe durchdrungen, dem einzigen Leuchtfeuer in der Nacht.

Diese verworrenen, ineinanderkreisenden Erinnerungsbilder hielten jeweils nur ein paar Sekunden an; meine kurze Unsicherheit über den Ort, an dem ich mich befand, unterschied ebensowenig die einzelnen Vermutungen, aus der sie bestand, wie wir die einander ablösenden Stellungen eines laufenden Pferdes isolieren, die das Kinetoskop1 uns zeigt. Doch ich hatte bald das eine, bald das andere der Zimmer, die ich in meinem Leben bewohnt hatte, vor mir gesehen, und in den langen Träumereien nach meinem Erwachen rief ich sie mir schließlich alle ins Gedächtnis zurück; Winterzimmer2, wo wir uns zusammenrollen, wenn wir im Bett liegen, den Kopf in einem Nest, das wir uns aus den verschiedenartigsten Dingen flechten: einer Ecke des Kopfkissens, dem oberen Teil der Bettdecke, dem Zipfel eines Schals, dem Bettrand, einer Nummer der Débats roses3, die wir schließlich zusammenkitten, indem wir uns gemäß der Technik der Vögel unablässig dagegenpressen; wo bei Eiseskälte das besondere Vergnügen darin besteht, sich von der Außenwelt getrennt zu fühlen (wie die Seeschwalbe, die ihr Nest tief in einem Gang in der Wärme der Erde hat), und wo wir dank dem die ganze Nacht hindurch unterhaltenen Kaminfeuer in einem großen Mantel aus warmer, rauchiger Luft schlafen, durch den der Schein frisch aufflammender Scheite dringt, in einer Art von ungreifbarem Alkoven, von warmer Höhle, die sich im Inneren des Zimmers auftut, einer heißen Zone mit veränderlichen thermischen Konturen, durchzogen von Luftzügen, die uns das Gesicht erfrischen und aus den Ecken kommen, von Stellen nahe dem Fenster oder fern vom Feuer, die sich schon abgekühlt haben; – Sommerzimmer, wo wir uns gerne mit der lauen Nacht vereinen, wo das Mondlicht auf den halbgeöffneten Läden liegt und seine Zauberleiter bis ans Fußende des Bettes wirft, wo wir fast im Freien schlafen wie die Meise, die sich im Hauch des Windes auf der Spitze eines Strahles wiegt; – manchmal das Louis-Seize-Zimmer, das etwas so Heiteres hatte, daß ich darin selbst am ersten Abend nicht allzu unglücklich war, und in dem die kleinen Säulen, die mühelos die Decke trugen, so anmutig auseinanderrückten, um den Platz für das Bett anzugeben und freizuhalten; manchmal dagegen jenes kleine mit der so hohen Decke, das sich pyramidenförmig über zwei Stockwerke hin wölbte und teilweise mit Mahagoni verkleidet war, wo ich von der ersten Sekunde an durch den unbekannten Vetivergeruch seelisch vergiftet wurde, überzeugt von der Feindseligkeit der violetten Vorhänge und der unverschämten Gleichgültigkeit der Pendeluhr, die ganz laut vor sich hin schwatzte, als wäre ich gar nicht da; – wo ein seltsamer und unerbittlicher viereckiger Standspiegel schräg eine Zimmerecke verstellte und sich in der angenehmen Ausgefülltheit meines gewohnten Gesichtsfeldes einen Platz eingrub, der nicht vorgesehen war; – wo in stundenlangen Versuchen, sich zu verrenken, sich in die Höhe zu recken, um die genaue Form des Zimmers anzunehmen und dessen gigantischen Trichter bis zuoberst auszufüllen, mein Denken manche harte Nacht durchlitten hatte, während ich in meinem Bett lag mit erhobenem Blick, ängstlich gespanntem Ohr, widerspenstiger Nase und klopfendem Herzen; bis die Gewohnheit die Farbe der Vorhänge verändert, die Pendeluhr zum Schweigen gebracht, den schrägen und grausamen Spiegel Mitleid gelehrt, den Vetivergeruch zwar nicht völlig verjagt, aber doch überdeckt und die scheinbare Höhe der Decke beträchtlich vermindert hatte. Ja, die Gewohnheit! Sie ist eine geschickte, aber sehr langsame Einrichterin, die unseren Geist zunächst einmal wochenlang in einem Provisorium schmachten läßt; doch ist er trotz allem froh, sie vorzufinden, denn ohne die Gewohnheit, nur auf sich selbst gestellt, wäre er außerstande, uns eine Behausung bewohnbar zu machen.

Gewiß war ich nun völlig wach, mein Körper hatte eine letzte Drehung vollzogen, und der gute Engel der Gewißheit hatte alles um mich her zum Stillstand gebracht, mich unter meine Decken gebettet, in meinem Zimmer, und hatte in der Dunkelheit meine Kommode, meinen Schreibtisch, meinen Kamin, das Fenster zur Straße und die beiden Türen annähernd an ihren Platz gebracht. Mochte ich jetzt auch noch so gut wissen, daß ich mich nicht in den Wohnungen befand, von denen mir die Benommenheit im Augenblick des Erwachens zwar kein deutliches Bild gegeben, aber ihre mögliche Gegenwart doch glaubhaft gemacht hatte, mein Gedächtnis war in Bewegung geraten; meist versuchte ich nicht, gleich wieder einzuschlafen; ich verbrachte den größten Teil der Nacht damit, an unser Leben von früher zurückzudenken, in Combray bei meiner Großtante, in Balbec, in Paris, in Doncières, in Venedig und anderswo1, mir die Stätten in Erinnerung zu rufen, die Menschen, die ich dort gekannt, was ich von ihnen gesehen und was man mir von ihnen erzählt hatte.

In Combray2 wurde Tag für Tag mein Schlafzimmer, sobald der Abend näher rückte, doch lange bevor ich mich zu Bett begeben und, ohne einschlafen zu können, von Mutter und Großmutter fernbleiben müßte, von neuem zum schmerzvollen Punkt, auf den sich meine Gedanken fixierten. Wohl war man, um mich abzulenken, wenn ich abends allzu unglücklich dreinschaute, auf die Idee gekommen, mir eine Laterna magica zu schenken, die – bis das Abendessen bereit war – auf meiner Lampe befestigt wurde; und wie die ersten Baumeister und Glasmaler der Gotik ersetzte sie nun die massive Mauerfläche durch ungreifbare, irisierende Lichtspiele, übernatürliche und buntfarbige Erscheinungen, die Legenden darstellten wie auf einem schwankenden und nur für einen Augenblick sichtbaren Kirchenfenster. Meine Betrübnis aber wurde dadurch nur noch größer, denn allein schon der Beleuchtungswechsel zerstörte die Vertrautheit, die ich meinem Zimmer gegenüber gewonnen hatte und dank der es mir – abgesehen von der Qual des Zubettgehens – erträglich geworden war. Nun vermochte ich es nicht wiederzuerkennen und war darin so unruhig wie im Zimmer eines Hotels oder eines Ferienchalets, das ich gleich nach der Ankunft mit der Eisenbahn zum ersten Mal betreten hätte.

Ruckweise und Schreckliches sinnend kam Golo aus dem dreieckigen Wäldchen herausgeritten1, dessen dunkles Grün sich wie eine Samtdecke über den Abhang eines Hügels legte, und näherte sich in zuckender Bewegung dem Schloß der bedauernswerten Genoveva von Brabant.2 Dieses Schloß hörte wie abgeschnitten an einer krummen Linie auf, die nichts anderes war als der Rand eines der Glasovale im Rähmchen, das man durch die Führung der Laterne schob. Es war nur eine Ecke von einem Schloß, und vor ihm lag eine Heide mit der vor sich hin träumenden Genoveva, die einen blauen Gürtel trug. Schloß und Heide waren gelb, doch hatte ich sie nicht erst zu sehen brauchen, um ihre Farbe zu kennen; denn lange vor den Glasscheiben des Rähmchens hatte der braungoldene Wohlklang des Namens Brabant mir diese schon deutlich vor Augen geführt. Golo hielt einen Augenblick inne, um mit kummervoller Miene die Legende anzuhören, die meine Großtante vortrug und die er völlig zu verstehen schien, paßte er doch – mit einer Gefügigkeit, die eine gewisse Würde nicht ausschloß – seine Haltung den Angaben des Textes an. Dann entfernte er sich auf die gleiche ruckartige Weise. Und nichts vermochte seinen langsamen Ritt aufzuhalten. Wurde die Laterne verschoben, so gewahrte ich Golos Roß, wie es sich über die Vorhänge des Fensters hin weiterbewegte und sich in ihrem Faltenspiel hinaufwölbte und hinunterkrümmte. Selbst Golos Körper, von ebenso übernatürlichem Wesen wie der seines Reittiers, kam mit jedem materiellen Hindernis, jedem störenden Gegenstand auf seinem Weg zurecht, indem er ihn sich einverleibte und sich seiner wie eines Knochengerüstes bediente, bis hin zum Türknopf, um den sich plötzlich und unwiderstehlich Golos roter Mantel legte oder sein bleiches Gesicht, immer gleich edel, gleich melancholisch, doch scheinbar unbeeindruckt von dieser Entrückung.1

Gewiß, sie waren nicht ohne Reiz, diese glitzernden Projektionen, die aus merowingischer Vorzeit zu kommen schienen und Bilder längst vergangener Zeiten an mir vorüberziehen ließen.2 Aber ich kann gar nicht sagen, wie unheimlich mir dennoch dieses Eindringen des Mysteriums und der Schönheit in ein Zimmer war, das ich endlich so sehr mit meinem Ich erfüllt hatte, daß ich ihm nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte als eben diesem. Nun aber, da der anästhesierende Einfluß der Gewohnheit aufgehört hatte, begann ich zu denken, zu fühlen – beides traurige Dinge. Dieser Knopf an der Tür meines Zimmers, der sich für mich von allen anderen Türknöpfen der Welt dadurch unterschied, daß er die Tür ganz von alleine zu öffnen schien, ohne daß ich ihn zu drehen brauchte, so unbewußt betätigte ich ihn – nun diente er Golo als Astralleib. Und kaum wurde zum Abendessen geklingelt, rannte ich eiligst ins Eßzimmer, wo die schwerfällige Hängelampe nichts von Golo und Blaubart wußte, dafür aber meine Eltern und den Bœuf à la casserole kannte und wie jeden Abend ihr Licht spendete, um mich in die Arme Mamas zu werfen, die mir durch Genoveva von Brabants trauriges Schicksal noch lieber wurde, während mich Golos Verbrechen anhielten, mein eigenes Gewissen mit noch mehr Sorgfalt zu durchforschen.

Nach dem Abendessen, ach! mußte ich bald Mama verlassen, die blieb, um mit den anderen zu plaudern, bei schönem Wetter im Garten, bei schlechtem in dem kleinen Salon, in den sich dann alle zurückzogen. Alle, außer meiner Großmutter, die fand, es sei »ein Jammer, wenn man auf dem Lande war, in der Stube zu hocken«, und die endlose Diskussionen mit meinem Vater hatte, weil er mich an Tagen, wo es allzusehr regnete, auf mein Zimmer lesen schickte, anstatt mich zum Draußenbleiben zu veranlassen. »Auf die Weise wird er nie robust und energisch werden«, pflegte sie traurig zu äußern, »gerade dieser Kleine, der es so nötig hätte, zu Kräften zu kommen und seinen Willen zu stählen.« Mein Vater zuckte dann die Achseln und schaute prüfend das Barometer an, denn er hatte eine Schwäche für Meteorologie, während meine Mutter, die sich möglichst leise verhielt, um ihn nicht zu stören, ihn mit zärtlichem Respekt anblickte, allerdings nicht zu aufmerksam, damit es nicht aussähe, als wolle sie in das Geheimnis seiner Überlegenheit eindringen. Meine Großmutter aber konnte man bei jedem Wetter, selbst wenn es in Strömen regnete und Françoise hinausgestürzt war, um die kostbaren Rohrmöbel hereinzuholen, damit sie nicht naß würden, im leeren, vom Platzregen durchfegten Garten sehen, wie sie ihre zerzausten grauen Haare zurückstrich, damit ihre Stirn die heilsamen Kräfte von Wind und Regen um so tiefer in sich aufnehme. »Endlich kann man einmal frei atmen!« pflegte sie dann zu sagen und eilte durch die aufgeweichten Wege – die ihrer Meinung nach von dem neuen Gärtner, der kein Naturgefühl besaß und den mein Vater seit dem Morgen schon befragt hatte, ob das Wetter sich aufklären würde, allzu symmetrisch angelegt waren – mit enthusiastischen, ruckartigen, kurzen Schritten, die sich nach den verschiedenen Empfindungen regelten, wie sie in ihrer Seele durch den Rausch des Unwetters, die Macht der Hygiene, die Torheit meiner Erziehung und die Symmetrie des Gartens hervorgerufen wurden, nicht aber nach dem ihr unbekannten Wunsch, ihrem prunefarbenen Rock die Schlammspritzer zu ersparen, unter denen er bis zu einer Höhe verschwand, die für ihr Zimmermädchen stets ein Problem und ein Gegenstand der Verzweiflung war.

Fanden Großmutters Rundgänge durch den Garten nach dem Abendessen statt, dann vermochte nur eines sie ins Haus zurückzubringen: wenn nämlich in einem der Augenblicke, da ihre Umlaufbahn sie in regelmäßigen Abständen wie ein Insekt an die beleuchteten Fenster des kleinen Salons führte, wo gerade auf dem Spieltisch die Liqueurs serviert wurden, meine Großtante ihr zurief: »Bathilde! Sieh doch zu, daß dein Mann keinen Cognac trinkt!«1 Um sie zu necken (sie hatte in die Familie meines Vaters einen so anderen Geist hineingebracht, daß sich alle über sie lustig machten und sie quälten), veranlaßte meine Großtante nun tatsächlich meinen Großvater, dem die Schnäpse verboten waren, ein paar Tropfen zu trinken. Meine arme Großmutter kam herein und beschwor ihren Mann, keinen Cognac zu trinken; er wurde böse, trank trotzdem sein Gläschen, und meine Großmutter ging traurig, entmutigt und gleichwohl lächelnd davon, denn sie war so demütigen Herzens und so sanftmütig, daß ihre Zärtlichkeit für die anderen und die geringe Wichtigkeit, die sie ihrer eigenen Person und ihren Leiden beilegte, sich in ihrem Blick in einem Lächeln versöhnten, das ganz im Gegensatz zu dem, was man auf den meisten Gesichtern liest, Ironie nur gegen sich selbst enthielt; uns aber streiften ihre Augen alle wie mit einem Kuß, denn sie konnte ihre Lieben nicht anschauen, ohne sie leidenschaftlich mit dem Blick zu streicheln. Die Marter, die meine Großtante ihr auferlegte, das Schauspiel der vergeblichen Bitten meiner Großmutter und ihrer Schwäche, die sich im voraus geschlagen gab, wenn sie umsonst versuchte, meinem Großvater sein Glas Liqueur auszureden, das alles waren Dinge, an die man sich später so weitgehend gewöhnt, daß man sie lachend mitansieht und wohl auch entschieden und in aller Heiterkeit die Partei des Verfolgers ergreift, um sich selbst zu überzeugen, daß es sich eigentlich nicht um eine Verfolgung handelt; damals flößten sie mir solches Grauen ein, daß ich meine Großtante am liebsten geschlagen hätte. Sobald ich aber hörte: »Bathilde, sieh doch zu, daß dein Mann keinen Cognac trinkt!« tat ich, an Feigheit bereits ein Mann, was wir, wenn wir groß sind, angesichts von Leiden und Ungerechtigkeiten alle tun: ich wollte sie nicht sehen; um meinen Tränen freien Lauf lassen zu können, stieg ich im Haus bis unter das Dach, wo neben der Studierstube eine kleine Kammer lag, die nach Iriswurzel roch und außerdem von einem wilden schwarzen Johannisbeerstrauch durchduftet wurde, der draußen zwischen den Mauersteinen wuchs und einen Blütenzweig durch das halboffene Fenster schob. An sich für einen spezielleren und alltäglicheren Gebrauch bestimmt, diente mir dieser Raum, von dem aus man bei Tag bis zum Turm von Roussainville-le-Pin blicken konnte, lange Zeit, zweifellos weil er der einzige war, in dem ich mich einschließen durfte, als Zuflucht für all meine Beschäftigungen, die unverletzliche Einsamkeit erforderten: Lesen und Träumen, Tränen und Lust. Ich wußte nicht – Gott sei’s geklagt! –, daß weit mehr als die kleinen Verstöße ihres Gatten gegen seine Diät meine Willensschwäche, meine zarte Gesundheit sowie die Ungewißheit, mit der sie meine Zukunft überschatteten, meine Großmutter während ihres rastlosen nachmittäglichen und abendlichen Umherwandelns mit Besorgnis erfüllten, wenn man ihr schönes Antlitz immer wieder schräg zum Himmel erhoben auftauchen sah mit den braunen, durchfurchten Wangen, die beim Altern fast den malvenfarbenen Ton der Äcker zur Zeit der Herbstbestellung angenommen hatten; sie waren, wenn sie ausging, von einem zurückgeschlagenen Schleier halb bedeckt, und von der Kälte oder einem traurigen Gedanken herbeigeführt, trocknete darauf stets eine unwillkürliche Träne.

Mein einziger Trost war, wenn ich schlafen ging, daß Mama, wenn ich im Bett läge, heraufkommen und mir einen Kuß geben würde. Doch dieses Gutenachtsagen dauerte nur so kurze Zeit, sie ging so bald schon wieder, daß der Augenblick, da ich sie heraufkommen und dann in dem Gang mit der Doppeltür das leichte Rascheln ihres Gartenkleides aus blauem Musselin mit kleinen strohgeflochtenen Quasten hörte, für mich ein schmerzlicher Augenblick war. Er kündigte bereits den nächsten an, der auf ihn folgen sollte, wo sie mich verlassen haben und wieder unten sein würde. Das ging so weit, daß ich mir beinahe wünschte, dies von mir so heiß ersehnte Gutenachtsagen möge erst so spät wie möglich stattfinden, und die Gnadenfrist, in der Mama noch nicht gekommen wäre, zöge sich recht lange hin. Manchmal, wenn sie, nachdem sie mich geküßt hatte, die Tür öffnete, um zu gehen, wollte ich sie zurückrufen und ihr sagen: »Gib mir noch einen Kuß«, aber ich wußte, daß sie dann auf der Stelle ihr strenges Gesicht zeigen würde, denn das Zugeständnis, das sie meiner Traurigkeit und Aufregung machte, indem sie heraufkam und mir mit diesem Friedenskuß gute Nacht sagte, verdroß meinen Vater, der das Zeremoniell absurd fand; viel lieber hätte sie mich diesen Wunsch, diese Gewohnheit aufgeben sehen, als mich auch noch darin zu unterstützen, daß ich einen zweiten Kuß von ihr wollte, wenn sie schon an der Tür war. Sie nun aber erzürnt zu sehen machte die ganze Beschwichtigung meines Herzens zunichte, die sie mir einen Augenblick zuvor geschenkt hatte, als sie ihr liebevolles Antlitz über mein Bett neigte und es mir darbot wie die Hostie einer Friedenskommunion, bei der meine Lippen ihre leibhaftige Gegenwart und die Kraft einzuschlafen von ihr empfingen. Doch jene Abende, an denen meine Mutter alles in allem nur so kurz in meinem Zimmer verweilte, waren voll Süße, verglichen mit jenen, wo jemand zum Essen da war und sie deshalb nicht gute Nacht sagen kam. Dieser Jemand war gewöhnlich Monsieur Swann, der, abgesehen von gelegentlich durchreisenden Fremden, nahezu der einzige Mensch war, der uns in Combray besuchte, manchmal zu einem nachbarlichen Abendessen (seltener allerdings seit jener unpassenden Heirat, denn meine Eltern wünschten seine Frau nicht zu empfangen), manchmal auch unangemeldet nach dem Nachtmahl. Die Abende, da wir, unter dem großen Kastanienbaum vor dem Haus, um den Eisentisch saßen und am anderen Ende des Gartens nicht die übereifrig lärmende Schelle hörten, die beim Eintreten mit ihrem scheppernden, anhaltenden und gleichsam festgefrorenen Klang jeden Hausbewohner überschüttete und betäubte, der sie in Bewegung setzte, wenn er »ohne zu läuten« in den Garten trat, sondern das zweimalige schüchterne, runde und goldene Klingeln1 der Glocke für die Besucher, so fragten sich alle gleich: »Besuch? Wer kann denn das sein?« Doch wir wußten, daß es nur Swann sein konnte; meine Großtante, die, um mit gutem Beispiel voranzugehen, mit lauter Stimme sprach, wobei sie sich um einen Ton bemühte, der natürlich wirken sollte, verbot uns dann immer zu tuscheln; nichts, sagte sie, sei unhöflicher einem Ankommenden gegenüber, der ja glauben müsse, man sage gerade etwas, was er nicht hören solle; dann wurde zur Erkundung meine Großmutter ausgeschickt, die über jeden Vorwand froh war, einen Gang durch den Garten zu machen, und die Gelegenheit nutzte, beim Vorbeigehen verstohlen ein paar Stützen von den Rosen wegzunehmen, um sie etwas natürlicher aussehen zu lassen, etwa wie eine Mutter, die, um sie zu lockern, ihrem Sohn mit der Hand durch die Haare fährt, wenn der Friseur sie allzu glatt gebürstet hat.

Wir warteten dann alle gespannt auf die Nachricht, die meine Großmutter vom Feinde bringen würde, gerade als hätten wir die Auswahl zwischen wer weiß wie vielen Leuten, die uns überfallen könnten, und bald darauf pflegte mein Großvater festzustellen: »Es ist Swann, ich erkenne seine Stimme.« Er war tatsächlich nur an der Stimme zu erkennen, denn sein Gesicht mit der gebogenen Nase und den grünen Augen unter einer hohen, von blondem, fast rötlichem, »à la Bressant«1 frisiertem Haar umgebenen Stirn sah man nur undeutlich, ließen wir doch im Garten so wenig Licht wie möglich brennen, um nicht die Schnaken anzuziehen, und ich ging dann unauffällig sagen, man möge den Fruchtsaft bringen; meine Großmutter legte Wert darauf – denn sie fand es liebenswürdiger so –, daß es nicht aussähe, als würde er nur ausnahmsweise und nur des Besuches wegen auf den Tisch gebracht. Obgleich viel jünger, war Swann sehr intim mit meinem Großvater, der einer der besten Freunde seines Vaters gewesen war, eines trefflichen, aber merkwürdigen Mannes, bei dem zuweilen offensichtlich eine Kleinigkeit genügt hatte, um die Regungen seines Herzens zu unterbrechen oder seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Mehrmals im Jahre hörte ich meinen Großvater bei Tisch immer die gleichen Anekdoten über das Verhalten von Swann senior beim Tode seiner Frau erzählen, an deren Lager er Tag und Nacht gewacht hatte. Mein Großvater, der ihn lange nicht gesehen hatte, war zu ihm auf den Landsitz geeilt, den die Swanns in der Nähe von Combray besaßen, und hatte erreicht, daß jener, damit er nicht bei der Einsargung anwesend wäre, einen Augenblick, noch ganz in Tränen aufgelöst, das Sterbezimmer verließ. Sie machten ein paar Schritte durch den Park, der in zartem Sonnenschein dalag. Plötzlich faßte Swann meinen Großvater beim Arm und rief: »Ah, mein alter Freund! Was für ein Glück, daß wir hier bei diesem schönen Wetter zusammen spazierengehen können! Ist das nicht wunderhübsch, diese Bäume, dieser Weißdorn und mein Teich, zu dem Sie mir noch nicht einmal gratuliert haben! Sie sehen ja so griesgrämig aus. Spüren Sie nicht diesen leichten Wind? Ah, man kann sagen, was man will, das Leben hat doch seine guten Seiten, mein lieber Amédée!« Auf einmal fiel ihm seine verstorbene Frau wieder ein, und da er es offenbar zu kompliziert fand, darüber nachzudenken, wie er in einem solchen Augenblick sich einer so freudigen Regung habe hingeben können, begnügte er sich mit einer Bewegung, die er immer machte, wenn eine schwierige Frage seinen Geist in Anspruch nahm, er strich sich mit der Hand über die Stirn, wischte sich die Augen und putzte die Gläser seines Kneifers. Gleichwohl konnte er sich über den Tod seiner Gattin nicht trösten, und während der beiden Jahre, um die er sie überlebte, sagte er oft zu meinem Großvater: »Komisch, ich denke sehr oft an meine liebe Frau, aber ich kann nicht lange auf einmal an sie denken.« »Oft, aber nicht lange auf einmal, wie der alte Swann selig«, war eine der Lieblingsredensarten meines Großvaters geworden, die er bei den verschiedensten Gelegenheiten anbrachte. Ich hätte Swanns Vater wahrscheinlich für einen Unmenschen gehalten, wenn nicht mein Großvater, zu dessen Meinungen ich blindes Vertrauen hatte, dessen Urteil für mich ein Evangelium war und der mich danach oft zur Nachsicht gegen Fehler bewogen hat, die ich eigentlich zu verdammen geneigt war, protestiert hätte: »Aber wieso! Er war eine Seele von einem Menschen!«

Obwohl der junge Swann, zumal vor seiner Heirat, sie oft in Combray besuchen kam, ahnten meine Großtante und meine Großeltern jahrelang nicht, daß er durchaus nicht mehr in der Gesellschaftsklasse lebte, in der seine Eltern verkehrt hatten, und daß sie unter dem Inkognito, das ihm bei uns der Name Swann verschaffte – wie vollkommen gutgläubige, ehrliche Hotelwirte, die ohne es zu wissen einem berühmten Straßenräuber in ihrem Haus Unterkunft gewähren –, eines der elegantesten Mitglieder des Jockey-Clubs beherbergten, den besten Freund des Grafen von Paris und des Prinzen von Wales, einen der verhätscheltsten Männer der vornehmen Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain.1

Daß wir uns über Swanns glänzendes Leben in der mondänen Welt in solcher Unkenntnis befanden, kam natürlich zum Teil von der Zurückhaltung und dem Takt, die in seinem Charakter lagen, aber auch daher, daß sich die bürgerlichen Kreise jener Zeit die »Gesellschaft« ein wenig wie bei den Hindus vorstellten, nämlich aus geschlossenen Kasten bestehend, wo jeder von Geburt an denselben Rang einnimmt wie seine Eltern, aus dem ihn nichts als die Zufälle einer außergewöhnlichen Laufbahn oder einer unerwartet günstigen Heirat ziehen konnten, um ihn in eine höhere Kaste aufsteigen zu lassen. Swann senior war Wechselmakler; der »junge Swann« gehörte also für sein Leben einer Kaste an, in der die Vermögen, wie in einer bestimmten Steuerklasse, nur innerhalb bestimmter Grenzen schwankten. Man wußte, in welchen Kreisen sein Vater verkehrt hatte, man kannte also auch die seinigen, die Personen, mit denen er »in der Lage« war zu verkehren. Verkehrte er auch in anderen Kreisen, so waren es solche, in denen sich ein junger Mann nun eben einmal bewegt und die alte Freunde seiner Familie wie meine Eltern um so wohlwollender übersahen, als er auch nach dem Tode seines Vaters treu weiter bei uns erschien; aber es war tausend gegen eins zu wetten, daß diese uns unbekannten Leute, mit denen er Umgang pflegte, solche waren, die er in unserer Gesellschaft, wäre er ihnen begegnet, nicht zu grüßen gewagt hätte. Hätte man Swann unbedingt eine soziale Bewertung zukommen lassen wollen, die ihn persönlich von anderen Söhnen von Maklern in der Stellung seiner Eltern unterschied, so wäre seine Note eher etwas minder ausgefallen; denn äußerst schlicht in seinem Auftreten und von jeher mit einer »Marotte« für Bilder und Antiquitäten behaftet, wohnte er jetzt in einem alten Stadthaus, das er mit seinen Sammlungen vollgestopft hatte, die meine Großmutter immer gern einmal angesehen hätte, das aber am Quai d’Orléans1 lag, in einem Viertel also, in dem zu wohnen meine Großtante für entwürdigend hielt. »Verstehen Sie denn auch etwas davon? Ich frage nur in Ihrem Interesse, weil Sie sich womöglich von den Händlern wertlosen Schmarren aufschwatzen lassen«, sagte meine Großtante zu ihm; sie traute ihm tatsächlich keinerlei Urteil zu und hatte auch hinsichtlich der Intelligenz keine hohe Meinung von einem Mann, der in der Unterhaltung ernsthafte Gegenstände vermied und nicht nur, wenn er bis ins einzelne gehend uns Kochrezepte gab, sondern auch wenn die Schwestern meiner Großmutter von Kunst redeten, eine höchst prosaische Pedanterie an den Tag legte. Wurde er zum Beispiel von ihnen aufgefordert, über ein Bild seine Meinung zu sagen, seine Bewunderung zu äußern, so bewahrte er ein fast unhöfliches Schweigen, wurde hingegen lebhaft, wenn er über das Museum, in dem es sich befand, oder über seine Entstehungszeit rein sachlich Auskunft erteilen konnte. Doch gewöhnlich versuchte er nur, uns jedesmal mit einer neuen Geschichte zu unterhalten, die ihm mit Leuten zugestoßen war, die er aus dem Kreise der uns bekannten Personen wählte: dem Apotheker von Combray, unserer Köchin oder unserem Kutscher. Gewiß, meine Großtante lachte über diese Geschichten, nur wußte sie nicht genau, ob wegen der komischen Rolle, die Swann immer darin übernahm, oder weil er sie so amüsant zu erzählen wußte: »Man muß wirklich sagen, Monsieur Swann, Sie sind ein Original!« Da sie als einzige in unserer Familie etwas gewöhnlich war, legte sie Wert darauf, Fremden, wenn von Swann die Rede war, zu verstehen zu geben, daß er, wenn er wolle, auch am Boulevard Haussmann oder in der Avenue de l’Opéra hätte wohnen können, daß er der Sohn von Monsieur Swann sei, der ihm sicherlich vier oder fünf Millionen hinterlassen habe; aber er habe nun einmal diese fixe Idee. Eine Idee übrigens, von der sie glaubte, sie sei für andere so erheiternd, daß sie in Paris, wenn Swann ihr am ersten Januar eine Tüte mit glacierten Maronen brachte und andere Leute zugegen waren, niemals zu sagen unterließ: »Nun, Monsieur Swann, und Sie wohnen immer noch am Weindepot, damit Sie ja den Zug nicht versäumen, wenn sie nach Lyon reisen?« Und dabei schielte sie über ihr Lorgnon hinweg nach den anderen Besuchern.

Hätte man nun meiner Großtante gesagt, daß dieser Swann, der als Sohn seiner Eltern vollkommen »qualifiziert« war, in der »guten Bourgeoisie«, bei den angesehensten Notaren und Rechtsanwälten von Paris zu verkehren (ein Vorrecht, das er ein wenig aufgegeben zu haben schien), gleichsam im geheimen noch ein ganz anderes Leben führte; daß er in Paris, nachdem er uns mit den Worten verlassen hatte, er gehe jetzt nach Hause und zu Bett, an der nächsten Straßenecke umkehrte und sich in einen Salon begab, den kein Auge eines Wechselmaklers oder eines Sozius eines Wechselmaklers je erblickt hatte, so wäre das für meine Tante ebenso unglaublich gewesen wie für eine belesenere Dame der Gedanke einer persönlichen Bekanntschaft mit Aristaios, von dem sie hören würde, daß er nach dem Plauderstündchen bei ihr wieder in das Reich der Thetis untertauchte, in ein Reich, das sich den Augen der Sterblichen entzieht und wo er, wie Vergil uns zeigt, mit offenen Armen empfangen wird1 ; oder – um bei einem Bild zu bleiben, das mehr Aussicht hatte, ihr in den Sinn zu kommen, denn sie kannte es von unseren Desserttellern in Combray – sie hätte Ali Baba bei sich zu Tisch gehabt, der, kaum wieder allein, in die Höhle zurückgekehrt wäre, die von ungeahnten Schätzen glänzt.2

Eines Tages war er in Paris nach dem Essen zu uns gekommen und hatte sich entschuldigt, daß er im Frack sei. Als Françoise, nachdem er gegangen war, von dem Kutscher gehört zu haben behauptete, er habe »bei einer Fürstin« gespeist, hatte meine Tante achselzuckend und ohne von ihrer Strickarbeit aufzusehen mit heiterer Ironie geantwortet: »Das glaube ich, bei einer Fürstin der Halbwelt!«

Daher ging auch meine Großtante ziemlich ungeniert mit ihm um. Da sie glaubte, er müsse sich durch unsere Einladungen geschmeichelt fühlen, fand sie es ganz selbstverständlich, daß er uns im Sommer nie anders besuchte als mit einem Korb Pfirsiche oder Himbeeren aus seinem Garten in der Hand und daß er mir von jeder seiner Reisen nach Italien Photographien von Meisterwerken mitbrachte.

Ungeniert ließ man sich von ihm, wenn nötig, Rezepte für eine »Sauce gribiche« oder einen Ananassalat3 besorgen, die man für große Diners benötigte, zu denen er nicht geladen war, da man ihn nicht »wichtig« genug fand, um ihn Fremden vorzusetzen, die zum ersten Mal kamen. Wenn das Gespräch gelegentlich auf die Fürsten des französischen Königshauses kam, sagte meine Großtante zu Swann, der vielleicht einen Brief aus Twickenham1 in der Tasche trug: »Leute, deren Bekanntschaft wir niemals machen werden, weder Sie noch ich, und wir können auch darauf verzichten, nicht wahr«; sie ließ ihn das Klavier rücken und an den Abenden, wo die Schwester meiner Großmutter sang, die Noten umblättern; sie behandelte dieses andernorts so gesuchte Wesen mit der naiven Roheit eines Kindes, das mit dem kostbaren, seltenen Stück einer Kunstsammlung nicht achtsamer spielt als mit irgendeinem wertlosen Gegenstand. Gewiß war der Swann, den zur selben Epoche so viele Mitglieder der vornehmsten Pariser Clubs kannten, ein ganz anderer als der, den meine Großtante sich schuf, wenn sie des Abends, in dem kleinen Garten von Combray, sobald das Glöckchen seine beiden zögernden Schläge getan hatte, diese dunkle undeutliche Gestalt, die sich, von meiner Großmutter gefolgt, aus einem finsteren Hintergrund ablöste, und die man an der Stimme erkannte, mit all dem, was sie über die Familie Swann wußte, anfüllte und belebte. Doch selbst hinsichtlich der unscheinbarsten Dinge des Lebens sind wir nicht ein objektiv erfaßbares Ganzes, das für alle gleich ist, so daß jeder nur davon Kenntnis zu nehmen braucht wie von einem Lastenheft oder einem Testament; als soziale Person sind wir eine geistige Schöpfung der anderen. Selbst der so einfache, »jemanden sehen, den wir kennen« genannte Vorgang bedeutet zum Teil eine geistige Aktivität. Wir statten die physische Erscheinung des Menschen, den wir sehen, mit all den Vorstellungen aus, die wir von ihm haben, und in dem Gesamtbild, das wir uns machen, spielen diese Vorstellungen sicherlich die Hauptrolle. Sie füllen schließlich so vollkommen die Wangen aus, sie halten sich so eng an die Linie der Nase, sie verstehen es so gut, dem Klang der Stimme eine Nuance zu geben, als ob sie nur eine durchsichtige Hülle wäre, daß es jedesmal, wenn wir dieses Gesicht sehen und diese Stimme hören, eben jene Vorstellungen sind, die wir wiederfinden und auf die wir horchen. Zweifellos hatte meine Familie in dem Swann, den sie sich selbst zurechtgemacht hatte, aus Unwissenheit eine Fülle von Besonderheiten seines mondänen Lebens ausgelassen, die gleichwohl der Grund waren, daß andere Personen, wenn sie mit ihm zusammen waren, die feine Eleganz in seinem Gesicht walten und an seiner gebogenen Nase wie an einer natürlichen Grenze enden sahen; dafür aber hatte sie wiederum in dieses von seinem gesellschaftlichen Prestige entkleidete und dadurch leere und geräumige Gesicht, auf den Grund dieser von ihr verkannten Augen den weich verschwimmenden Niederschlag – halb Erinnerung, halb Vergessen – an die Stunden der Muße legen können, die wir zusammen nach unserem allwöchentlichen gemeinsamen Abendessen, am Spieltisch oder im Garten, während unserer guten Nachbarschaft auf dem Lande verbracht hatten. Die leibliche Hülle unseres Freundes war sowohl hiervon als auch von einigen Erinnerungen an seine Eltern so gut ausgefüllt, daß dieser Swann ein lebendiges, ganzes Geschöpf geworden war und daß ich das Gefühl habe, die eine Person zu verlassen, um zu einer deutlich davon unterschiedenen anderen zu gehen, wenn ich in meinem Gedächtnis von dem Swann, den ich später genau kennengelernt habe, zu jenem ersten Swann zurückkehre – jenem ersten Swann, in dem ich die reizvollen Irrtümer meiner Jugend wiederfinde und der übrigens dem anderen weniger ähnlich sieht als den Personen, die ich zur selben Zeit kannte, als wenn es mit unserem Leben so wäre wie mit einem Museum, wo alle Porträts aus der gleichen Epoche eine gewisse Familienähnlichkeit aufweisen, einen gleichen Grundton – jenem ersten Swann, den eine Atmosphäre von Muße und ein zarter Duft nach dem alten Kastanienbaum, nach den Himbeerkörben und einem Stengelchen Estragon umweht.

Jedoch eines Tages, als meine Großmutter, um eine Gefälligkeit zu erbitten, zu einer Dame gegangen war, die sie vom Sacré-Cœur1 her kannte (und mit der sie trotz beiderseitiger Sympathie aufgrund unserer Auffassung der Kasten nicht hatte in Verbindung bleiben wollen), zu der Marquise von Villeparisis aus dem berühmten Hause Bouillon2, hatte diese zu ihr gesagt: »Ich glaube, Sie sind gut bekannt mit Monsieur Swann, der mit meinen Neffen des Laumes sehr befreundet ist.« Als meine Großmutter von ihrem Besuch zurückkam, war sie begeistert von dem Haus, von dem aus man in lauter Gärten sah und in dem Madame de Villeparisis ihr eine Wohnung zu mieten empfahl, und auch von einem Westennäher und seiner Tochter, die sie in ihrer Werkstatt dort auf dem Hof aufgesucht und gebeten hatte, einen Stich an ihrem Rock zu nähen, von dem sie sich auf der Treppe den Saum abgetreten hatte. Meine Großmutter fand diese Leute vollendet in ihrer Art; sie erklärte, die Kleine sei eine Perle und der Westennäher der vornehmste, der reizendste Mensch, den sie je gesehen habe; Vornehmheit war nämlich für sie ganz unabhängig von der sozialen Stellung. Sie war außer sich vor Entzücken über eine Antwort, die ihr der Westennäher gegeben hatte, und sagte zu Mama: »Die Sévigné hätte es nicht besser sagen können!«, dafür aber von einem Neffen von Madame de Villeparisis, den sie bei ihr getroffen hatte: »Weißt du, mein Kind, ich fand ihn gewöhnlich!«3

Nun hatte jedoch die Äußerung über Swann nicht zur Folge, diesen in den Augen meiner Großtante zu heben, sondern Madame de Villeparisis bei ihr herabzusetzen. Offenbar legte die hohe Meinung, die wir im guten Glauben an die Worte meiner Großmutter von Madame de Villeparisis hegten, der Dame die Verpflichtung auf, nichts zu tun, was sie dieser Meinung weniger würdig machte; gegen diese Verpflichtung aber hatte sie damit verstoßen, daß sie von Swanns Existenz Notiz nahm und es duldete, daß Leute, die mit ihr verwandt waren, mit ihm verkehren. »Wie? Sie kennt Swann? Und du hast behauptet, sie sei eine Kusine des Marschalls Mac-Mahon1 !« Die Vorstellung, die meine Familie von Swanns Umgang hatte, schien sich in ihren Augen zu bestätigen, als er eine Frau aus der schlechtesten Gesellschaft, fast eine Kokotte, heiratete, die er übrigens niemals bei uns einzuführen versuchte – vielmehr kam er weiter allein, wenn auch immer seltener –, nach der meine Familie aber das ihr unbekannte Milieu, in dem er sich gewöhnlich aufhielt, meinte beurteilen zu können, da sie annahm, er habe sie sich von dorther mitgebracht.

Eines Tages aber las mein Großvater in einer Zeitung, daß Monsieur Swann einer der regelmäßigen Gäste bei den Sonntagsdéjeuners des Herzogs von X … sei, dessen Vater und Onkel die herausragendsten Staatsmänner unter Louis-Philippe gewesen waren. Nun interessierte sich mein Großvater lebhaft für alle Einzelheiten, die ihm dazu verhelfen konnten, sich das Privatleben von Männern wie Molé, dem Herzog Pasquier oder dem Herzog von Broglie2 vorzustellen. Er war glücklich, als er erfuhr, daß Swann mit Leuten verkehrte, die offenbar mit ihnen Umgang gehabt hatten. Meine Großtante legte dagegen diese Neuigkeit in einem für Swann ungünstigen Sinne aus: Jemand, der seinen Umgang außerhalb der Kaste suchte, in der er geboren war, außerhalb seiner sozialen »Klasse«, deklassierte sich in ihren