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Weil seine Vorgesetzten ihn für den Selbstmord eines Geschäftsmannes verantwortlich machen, muss Jules Bettinger das sonnige Arizona verlassen und mit seiner Familie ins eiskalte Missouri ziehen. Sein neuer Einsatzort ist Victory, doch die Stadt ist alles andere als ein Gewinn. Die Polizeibehörde ist sträflich unterbesetzt, auf jeden Ermittler kommen gefühlt siebenhundert Straftäter. Dennoch wird Bettinger von den neuen Kollegen alles andere als willkommen geheißen. Um mit ihnen warmzuwerden, bleibt ihm allerdings kaum Zeit: Einer nach dem anderen wird auf grausame Art ermordet …

S. Craig Zahler wurde 1973 in Miami, Florida, geboren. Er schreibt Romane und Drehbücher. In seinem Regiedebüt Bone Tomahawk spielte Kurt Russell die Hauptrolle.

Richard Betzenbichler arbeitet als Journalist und Übersetzer (u. ‌a. von Joe R. Lansdale, Ken Bruen und Jason Starr). Katrin Mrugalla ist Buchhändlerin, unterrichtet Deutsch als Fremdsprache und arbeitet als Übersetzerin (u. ‌a. von Joe R. Lansdale, Lawrence Block und James Crumley).

 

 

S. Craig Zahler

Die Toten der
North Ganson
Street

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von
Katrin Mrugalla und Richard Betzenbichler

Suhrkamp

 

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Mean Business On North Ganson Street bei Thomas Dunne Books, New York.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4693.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© 2014 by Steven Craig Zahler

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: plainpicture/Tom Hogan

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

 

eISBN 978-3-518-74536-6

www.suhrkamp.de

Die Toten der
North Ganson
Street

 

I
Rohrverstopfung

Die tote Taube flog durch die Nacht, knallte Doggie ins Gesicht und fiel zu Boden. Während sie ostwärts rollte, kratzten ihre kalten Krallen laut über den Asphalt. Ihre Augen, die roten Austern ähnelten, waren starr auf die Einfahrt zur Sackgasse gerichtet.

Vier Männer in Maßanzügen starrten durch ihren kondensierenden Atem hindurch auf den Obdachlosen. Angeführt wurde die Gruppe von einem großen schwarzen Mann. Er war derjenige, der die Taube als Fußball zweckentfremdet hatte.

»Lasst mich gefälligst in Frieden«, sagte Doggie, der auf einem Pappkartonstapel thronte.

In den Augen des schwarzen Hünen blitzte es gefährlich auf. Dampf strömte aus seinen weiten Nasenlöchern, die den Nüstern eines Stiers ähnelten. Links von ihm stand ein sehr schlanker Asiate, dessen pockennarbigem Gesicht die Muskeln zu fehlen schienen, die der Mensch zum Lächeln benötigt.

»Wo ist Sebastian?«, fragte der schwarze Hüne, dessen Fuß schon wieder auf eine gefiederte Leiche zielte.

Doggie rutschte nach hinten, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. »Ich kenne keinen Sebastian.«

»Red keinen Scheiß.«

Der schwarze Hüne trat zu. Doggie hob schützend die Hände vors Gesicht. Eine Kralle riss ihm die rechte Handfläche auf. Federn wirbelten wie wild durch die Luft.

»Jeder in Victory kennt Sebastian.«

In den alkoholisierten Gehirnwindungen des genervten Obdachlosen formte sich ein Gedanke. »Seid ihr Bullen?«

Niemand antwortete.

»Hier ist noch eine.«

Der schwarze Hüne richtete den Blick auf den Sprecher, einen käsigen Mann mit roten Haaren, traurigen grünen Augen und zerknitterter Kleidung. Vor seinem rechten Halbschuh lag, einem Märtyrer gleich, mit starr nach oben gereckten Beinen ein Vogel.

»Nicht schlecht«, sagte der schwarze Hüne.

»Ich gebe mir Mühe.«

Im Laufe der Jahre hatte Doggie auf den Straßen von Victory eine Menge toter Tauben herumliegen sehen.

Der schwarze Hüne zog Handschuhe über seine riesigen Hände, beugte sich hinunter und packte die tote Taube am Kopf. »Hungrig?«, fragte er und musterte den Obdachlosen.

»Fick dich, Nigger.«

Die beiden Männer, die hinter dem Asiaten standen, hielten auf einmal Waffen auf ihn gerichtet. Der schwarze Hüne kam mit der Taube in der Hand auf Doggie zu. Der Rest der Gasse lag im Dunkeln, genau wie die Straße, in die sie mündete. Kein Mensch war zu sehen.

»Weiße Penner haben die übelsten Manieren«, bemerkte der Rothaarige, der gerade einen eingerissenen Fingernagel inspizierte. »Schwarze sind mir lieber.«

»Mir auch«, stimmte der pockennarbige Asiate zu. »Woran liegt das eigentlich?«

»Na ja … ein Schwarzer, der obdachlos ist, akzeptiert seine Obdachlosigkeit. Er kann auf seine Geschichte verweisen und sagen: Dieses Land hat meine Leute aus ihrer Heimat entführt, sie in Ketten gelegt und zur Arbeit gezwungen. Jetzt bin ich frei, und ich weigere mich zu arbeiten. Dieses Land schuldet mir was – für die Sklavenzeit und die schlechteren Bussitze und für tausend andere Ungerechtigkeiten. Dafür lasse ich mich jetzt für den Rest meines Lebens entschädigen.«

»Schadenersatz?«

»Genau. Schadenersatz. Aber ein obdachloser Weißer – das ist was anderes. Da ist nichts mit Schadenersatz. Seine Eltern haben geglaubt, er würde aufs College gehen, und er selbst auch. Vielleicht sogar auf die Uni. Und jetzt sitzt er auf der Straße, besäuft sich, scheißt sich in die Hose und fragt sich: ›Wie bin ich bloß hier zwischen all den Niggern gelandet?‹«

Der schwarze Hüne blieb wenige Zentimeter vor Doggie stehen. Er ließ den Arm mit der Taube, deren Bauch von Verwesungsgasen aufgebläht war, vor und zurück schwingen. Ihre verbogenen Federn standen in alle Richtungen ab.

»Wo ist Sebastian?« Jetzt bewegte der schwarze Hüne das Handgelenk so, dass die Vogelleiche wie ein Pendel hin und her schwang. »Spuck's aus, oder du erlebst gleich Thanksgiving Teil zwei.«

Doggie mochte keine Schwarzen, und Schwarze mochten ihn genauso wenig. Wann immer es ihm möglich war, hielt er sich von seinen dunkelhäutigen Kollegen fern und suchte sich einen Platz in den Vororten von Victory, wo er weniger auffiel und in Ruhe betteln konnte.

»Wo?« Gnadenlos starrte ihn der schwarze Hüne an.

Doggie hatte keine Freunde, aber er hatte einen Bekannten, einen Mann, der ihm Alkohol dafür gab, dass er Päckchen auslieferte, Leute ausspionierte und ganz allgemein die Ohren offen hielt. Der Name dieses großzügigen Wohltäters lautete Sebastian Ramirez, und der Obdachlose hatte nicht vor, einem dahergelaufenen Nigger im Anzug irgendetwas über diesen guten hombre zu erzählen.

»Ich weiß nicht, wer …«

Ein Knie grub sich in Doggies Brust, und er schrie. Der Vogel stopfte ihm den Mund.

»Lügner«, sagte der schwarze Hüne.

Der Obdachlose schmeckte Dreck und Federn. Ein Schnabel kratzte über seinen Gaumen. Erfolglos versuchte er, die großen Hände seines Angreifers wegzuschlagen.

Der schwarze Hüne zog die Taube wieder heraus.

Blut sammelte sich in Doggies Mund und lief ihm in einem dünnen roten Rinnsal, das Ähnlichkeit mit der Zunge einer Schlange hatte, über das Kinn. Doggie wurde übel. Verängstigt starrte er seinen Peiniger an.

»Nächstes Mal stopfe ich sie dir tiefer rein.«

»Das kannst du ihm ruhig glauben«, fügte der Rothaarige hinzu.

Den pockennarbigen Asiaten und den vierten Mann schien das Ganze nur am Rande zu interessieren.

Doggie spuckte Blut. »Er ist nicht hier.«

»Wo ist er?«

Der Obdachlose konnte es nicht riskieren, es sich mit Sebastian zu verscherzen, selbst wenn das bedeutete, am Kopf eines toten Vogels zu lutschen. »Fick dich, Nigger.«

»Wieder die alte Leier«, bemerkte der Rothaarige.

Der pockennarbige Asiate zuckte mit den Schultern.

Der schwarze Hüne rammte Doggie das Knie gegen die Brust und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn. Der Obdachlose schrie und wurde erneut per Taube zum Schweigen gebracht. Ein salziger Tropfen – das linke Auge des Vogels – glitt ihm über die Zunge. Als der Druck auf seine Brust wuchs, gab die Rippe, die ihm eine Bande kichernder schwarzer Teenager gebrochen hatte, zum dritten Mal in ebenso vielen Jahren knackend nach. Er versuchte zu schreien, gurgelte aber nur Federn.

Gähnend sah der Rothaarige den pockennarbigen Asiaten an. »Welche Beilage passt zu Truthahn?«

»Innereien.«

»Ich glaube, er produziert gleich welche.«

»Nicht auf meine Schuhe«, sagte der schwarze Hüne und zog den Vogel heraus.

Doggie drehte den Kopf weg und würgte einen ekligen Batzen Candy-Popcorn auf den Asphalt.

Der Rothaarige warf seinem Kollegen einen Blick zu. »Habe mich schon immer gefragt, wer das Zeug isst.«

»Rätsel gelöst.«

»Nächstes Mal stecke ich dir den Vogel ganz rein«, sagte der schwarze Hüne drohend. »Wo ist Sebastian?«

Doggie spuckte Galle und wischte sich die Überreste aus dem Bart. »Er ist nach …«

Es blitzte.

Ein Schuss ertönte, der Rothaarige wirbelte um neunzig Grad herum, fasste sich an die Schulter und fiel zu Boden. Der pockennarbige Asiate zog seinen verwundeten Kollegen hinter einen Abfallcontainer aus Metall, während der schwarze Hüne und der vierte Typ den Rücken gegen die gegenüberliegende Wand pressten und ihre Waffen hochrissen.

Schlagartig wurde es still.

Doggie kroch auf einen Hauseingang zu und brüllte: »Sie sind zu viert! Bullen! Zwei verstecken sich hinter dem …«

Ein weißer Feuerblitz erhellte die Gasse. Eine Kugel durchbohrte den Kehlkopf des Obdachlosen, und sein Schädel knallte gegen alte Ziegel. Bittere Kälte machte sich in seinem zerfetzten Nacken breit, und einen Moment später kam ihm der Asphalt entgegen. Kugeln flogen ihm um die Ohren, doch die Schüsse wurden leiser und leiser, bis es schließlich klang, als würde jemand die Karten für ein Pokerspiel mischen.

»Ob er wohl weiß, wie viele Schwarze es in der Hölle gibt?«, fragte jemand in einer Gasse, die jetzt weit, weit weg war.

Doggie stellte sich kichernde Schwarze mit Hörnern, roten Augen, scharfen Zähnen, Baggypants und großen Radios vor. Diese Version der Hölle stand ihm vor Augen, als sein Herz zu schlagen aufhörte.

»Für mich sah er aus wie ein Atheist.«

Ein Gewehr donnerte los, und der schwarze Hüne, der gern mit Tauben Fußball spielte, brüllte.

II
Das Vergessen verweigert

Es war Dezember, aber die heiße Sonne, die über dem Westen Arizonas am Himmel hing, scherte sich nicht um den Kalender. W. Robert Fellburn kniff die Augen zusammen, betrachtete das Polizeirevier und setzte den Flachmann, den er in der rechten Hand hielt, an die Lippen. Er trank den lauwarmen Rest, ließ den Flachmann fallen und schwankte über den Asphalt, gefolgt von seinem Schatten, der über die verblassten Parkplatzmarkierungen glitt.

Er presste die Handfläche gegen die Glasdrehtür, in der er einen 47 Jahre alten Geschäftsmann in einem zerknitterten marineblauen Anzug mit dunklen Flecken unter den Achseln entdeckte, mit geschwollenen Augen und lichtem blonden Haar. Robert starrte sein unglückliches Spiegelbild an, arrangierte die verbliebenen Strähnen auf seinem Kopf neu und rückte seine Krawatte zurecht. Er tat das aus Gewohnheit, ohne nachzudenken, mit dem Automatismus eines selbstreinigenden Ofens.

Vor seinem geistigen Auge tauchte eine schöne Frau auf, und Robert drückte gegen sein trauriges blasses Ebenbild.

Die Drehtür setzte sich in Bewegung und beförderte den Geschäftsmann in den Empfangsbereich des Polizeireviers, wo ihm ein Geruch in die Nase stieg, der entweder von Desinfektionsmitteln oder von Limonade kam. Auf unsicheren Beinen wankte er über den Linoleumboden zum vordersten Schreibtisch, an dem ein junger Latino in Polizeiuniform saß.

»Sind Sie betrunken?«

»Nein«, log Robert. »Ich sollte herkommen und mit …«, er sah auf seinen linken Ärmelaufschlag, auf dem mit Filzstift ein Name geschrieben stand, »… Detective Jules Bettinger sprechen.«

»Wie heißen Sie?«

»W. Robert Fellburn.«

»Warten Sie da drüben.«

»Okay.«

Der Polizist wählte eine Nummer, sprach leise in den Hörer, legte ihn wieder auf die Gabel, sah hoch und deutete mit dem Zeigefinger. »Dort.«

Robert starrte den Finger an.

»Schauen Sie dahin, wo ich hindeute.«

Der Blick des Geschäftsmannes folgte der unsichtbaren Linie, die vom Finger des Latinos zu einem Abfalleimer in der Nähe führte.

»Ich verstehe nicht.«

»Heben Sie ihn auf und nehmen Sie ihn mit.«

»Wieso?«

»Für den Fall, dass Ihr Frühstück sich ein bisschen umsehen möchte.«

Statt der rüden Beschreibung seines Zustands zu widersprechen, ging Robert zu dem Abfalleimer und hob ihn hoch. Daraufhin deutete der Latino auf den Gang, der sich an der Vorderseite des Gebäudes entlang erstreckte, und der Geschäftsmann nahm seinen Weg über das Linoleum wieder auf, den Abfalleimer in der Hand. Ihm stand das hübsche Gesicht der Frau vor Augen. Ihr Blick ließ die Zeit stillstehen.

»Mr Fellburn?«

Der Geschäftsmann schaute hoch. In der offenen Tür, die zum Großraumbüro des Reviers führte, stand ein schlanker, etwa ein Meter achtzig großer schwarzer Mann in einem olivfarbenen Anzug. Er hatte Geheimratsecken, einen schläfrigen Blick und ungewöhnlich dunkle Haut, die sämtliches Licht verschluckte.

»Sie sind Bettinger?«

»Detective Bettinger.« Der Polizist deutete auf die Tür. »Kommen Sie.«

»Muss ich den hier mitnehmen?« Robert hielt den Abfalleimer hoch.

»Wäre mir lieber.«

Gemeinsam gingen die beiden durch den Mittelgang des Großraumbüros, vorbei an Schreibtischen, Polizisten, Schreibkräften, dampfenden Kaffeetassen und Computerbildschirmen. Zwei Männer spielten Schach mit Figuren, die Hunden nachgebildet waren, und aus irgendeinem ihm unklaren Grund machte Robert der Anblick der gekrönten Hunde zu schaffen.

Er stieß gegen die Ecke eines Schreibtisches und geriet ins Taumeln.

»Reißen Sie sich zusammen«, sagte Bettinger.

Der Geschäftsmann nickte.

Sie kamen zu einer Wand aus Holzimitat, in die acht braune Türen eingelassen waren, jede geschmückt mit einem petrolfarbenen Schild. Der Detective deutete auf die Tür ganz rechts und folgte seinem Schützling in den Raum.

Die Strahlen der Morgensonne tauchten das Büro in helles Licht und stachen Robert in den Kopf wie Kinderfinger.

Bettinger schloss die Tür. »Setzen Sie sich.«

Der Geschäftsmann setzte sich auf eine schmale Couch, stellte den Abfalleimer neben seine Sechshundert-Dollar-Halbschuhe und sah hoch. »Man hat mir gesagt, ich soll mich an Sie wenden. Sie sind für Vermisste zuständig.«

Der Detective setzte sich hinter den Tisch und nahm einen Bleistift aus einer Keramiktasse mit einer lächelnden Sonne darauf. »Wie heißt sie?«

»Traci Johnson.«

Die Graphitspitze bewegte sich viermal. »Mit i oder mit y?«

»Mit i.«

Bettinger malte einen Strich, setzte einen Punkt darauf und schrieb weiter.

Robert erinnerte sich, dass Traci über dem i immer einen Kreis malte, als wäre sie eine Sechstklässlerin. Es war eine liebenswerte Marotte.

»Wann haben Sie die Frau zuletzt gesehen?«

Der Geschäftsmann wurde nervös. »Man hat mir gesagt, ich bräuchte keine 48 Stunden zu warten.«

»Da gibt es keine Regel.«

»Vorletzte Nacht. Etwa um Mitternacht.«

Bettinger schrieb: Samstag, der 8. Mitternacht.

»Geben Sie das nicht in den Computer ein?«

»Das macht nachher die Schreibkraft.«

»Oh.«

»Traci ist schwarz?«, fragte der Detective.

»Afroamerikanerin, ja.«

»Wie jung?«

Robert starrte in Bettingers dunkles, viereckiges Gesicht, das eine undurchdringliche Maske war. »Wie bitte?«

»Wie jung?«

»Zweiundzwanzig«, gestand der Geschäftsmann.

»Wie würden Sie Ihre Beziehung zu dieser Frau beschreiben?«

Vor Roberts Augen tauchte das Bild von Tracis nacktem, karamellfarbenem Körper auf, wie er auf einem mit kastanienfarbener Seide bezogenen Bett lag, den knackigen Hintern, die Oberschenkel und die Brüste in das Licht einer Reihe von Kerzen getaucht, die nach Orient rochen. Das Licht spiegelte sich in ihren faszinierenden Augen und in den vielen Facetten des Diamanten, der ihre linke Hand schmückte.

»Wir sind verlobt.«

»Sie wohnt bei Ihnen?«

»Meistens.«

»Ist Ihnen am Samstag irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Als sich Robert den Abend in Erinnerung rief, fing sein Herz an zu rasen. »Sie hatte Angst – ihr Bruder steckte in Schwierigkeiten und … und sie brauchte Hilfe. Wollte mich nicht bitten, aber …« Seine Kehle wurde eng und trocken.

»Wie heißt er?«

»Larry.«

Bettinger schrieb es auf. »In was für Schwierigkeiten steckte Larry?«

»Er schuldete ein paar Leuten Geld – viel Geld. Er ist spielsüchtig.«

»War es das erste Mal, dass Traci Sie gebeten hat, ihrem Bruder zu helfen?«

»Nein.« Robert sah auf seine Hände hinunter. »Es hat davor schon mal so eine Situation gegeben.«

»Wie oft?«

»Dreimal. Glaube ich.« Der Geschäftsmann stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nach dem letzten Mal hatte sie gedacht, er hätte aufgehört – er hatte es ihr versprochen, es ihr geschworen, aber … nun ja, er hatte gelogen.«

Bettinger steckte den Bleistift zurück in die Kaffeetasse.

Robert war verwirrt. »Müssen Sie das nicht aufschreiben?«

»Wie viel?«

»Wie bitte?«

»Wie viel Geld haben Sie ihr Samstag gegeben?«

»Fünfundsiebzig.« Der Geschäftsmann räusperte sich. »Tausend.«

»Und die anderen Male waren die Beträge kleiner – zwei- bis fünftausend.«

Das war nicht als Frage formuliert, Robert nickte dennoch. Ihm wurde flau im Magen. Er dachte an seine Ehefrau, seine zwei Kinder und das Haus, in dem sie alle zufrieden gewohnt hatten, bis er Traci letzten März bei einer VIP-Party kennengelernt hatte.

»Die Typen, bei denen ihr Bruder Schulden hatte, gehörten zur Mafia«, sagte der Geschäftsmann. »Sie hat mir erzählt, dass … dass sie ihn umbringen würden … vielleicht sogar auf sie selbst losgehen … ihr das Gesicht zerschneiden, wenn …«

»Möchten Sie was aus dem Automaten?«, fragte Bettinger und stand auf. »Ich habe eine Schwäche für Zimtkekse, aber man hat mir gesagt …«

»He! Nehmen sie mich eigentlich ernst?«

»Nein. Und wenn Sie noch mal brüllen, ist unser Gespräch beendet.«

»Es … es tut mir leid.« Roberts Stimme schien von weit weg zu kommen. »Sie ist meine Verlobte.«

»Wenn ich mir meine Kekse hole, bringe ich Ihnen ein paar Mappen mit, die Sie durchschauen können. Vielleicht können Sie die Frau ja identifizieren.«

»Was für Mappen?«

»Prostituierte.«

Der Geschäftsmann drehte den Kopf zum Abfalleimer und spuckte den schäumenden Inhalt seines Magens hinein. Zuckend entleerte sich sein Verdauungstrakt.

»Danke, dass Sie das aufgefangen haben«, sagte Bettinger. »Möchten Sie lieber ein andermal wiederkommen?«

Robert, der noch immer in den Abfalleimer spuckte, gab keine Antwort.

»Lassen Sie mich Ihnen auf die Sprünge helfen, Mr Fellburn«, sagte der Detective. »Traci hat inzwischen vermutlich die Stadt verlassen. Sie hat Geld, das Sie ihr gegeben haben – freiwillig. Wegen so was wird keine bundesweite Fahndung ausgelöst. Und falls wir sie tatsächlich erwischen sollten, geht die Sache vor Gericht, wo Sie einem Richter – vielleicht sogar Geschworenen – erklären müssen, wie Sie von einer schwarzen Hure, die halb so alt ist wie Sie, an der Nase herumgeführt worden sind.«

Bei dem Gedanken, seine Exfrau und seine Kinder noch mehr Peinlichkeiten auszusetzen, packte Robert das nackte Entsetzen.

»Traci ist schön?«

Der Geschäftsmann nickte, den Kopf noch immer im Abfalleimer.

»Stellen Sie sich das mal bildlich vor: ein reicher, weißer, notgeiler Mann mittleren Alters und ein hübsches, junges schwarzes Mädchen. Ich glaube kaum, dass 75 ‌000 Mäuse und ein Diamantring es wert sind, auf die Bühne zu klettern und solch eine Vorstellung zu geben.«

Robert hob den Kopf und wischte sich den Mund ab, während Bettinger durch das Büro ging.

»Haben Sie wirklich geglaubt, Traci mit i würde Sie heiraten?«

Der Geschäftsmann räusperte sich. »Wir sind sehr unterschiedlich – aber wieso nicht? So was kommt doch dauernd vor.«

»Ehrlich gesagt, nein.«

Nachdenkliche Stille senkte sich über den Raum. Der Detective öffnete die Tür. »Sind wir fertig?«

Robert nickte geknickt.

»Nehmen Sie den Abfalleimer mit.« Bettinger deutete nach draußen. »Und hören Sie in Zukunft auf Ihren Verstand.«

Aufgelöst erhob sich der Geschäftsmann von der Couch, ging aus der Tür und durchquerte das Großraumbüro, ein 47 Jahre alter Junggeselle, der seine Familie, sein Geld und seine Würde verloren hatte – nicht wegen einer hübschen jungen Hure, sondern wegen seiner Schwächen: seiner Undankbarkeit, seiner Geilheit und seiner unglaublichen Fähigkeit zum Selbstbetrug. Robert stellte sich vor, wie er mit Traci Johnson vor einem Priester stand und ihr in die Augen sah, während sie ihre Ehegelübde sprachen. Schlagartig wurde ihm klar, was für ein Vollidiot er gewesen war, dass er sich selbst etwas vorgemacht hatte, genau wie die Schachfigur, die er auf dem Schreibtisch des Polizisten gesehen hatte – der Hund, der eine Krone auf dem Kopf trug und sich für einen König hielt.

Nur gut, dass der Geschäftsmann wusste, wie er dieser Demütigung ein Ende setzen konnte.

Entschlossen trat er an den Empfangstresen, stülpte dem Latino den Abfalleimer über den Kopf und schnappte sich dessen halbautomatische Pistole. Der Polizist stürzte, geblendet von Erbrochenem, hintenüber und stieß einen Schrei aus, der von den Wänden widerhallte.

W. Robert Fellburn steckte sich den Lauf der Pistole in den Mund, löste den Sicherungshebel und drückte ab, bis seine Schande die Decke mit grauen und roten Flecken besudelte.

III
Stark vereinfachter Multiple-Choice-Test

Bettinger sah zu, wie zwei Angestellte einer Reinigungsfirma eine Leiter aufbauten und der letzten Willensbekundung des Selbstmörders mit Bürsten zu Leibe rückten. Der Ekel stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Der junge Polizist, dem eine Krone aus Kotze mit dazu passenden Schulterstücken aufgesetzt worden war, hatte sich aufgewühlt in einen frühen Feierabend verabschiedet. Die gehirnamputierte Leiche war an einen Ort mit Stahltüren, beißendem Geruch und Digitalthermometern gebracht worden, die sowohl auf der Celsius- als auch auf der Fahrenheitskala tiefe Temperaturen anzeigten.

Der Detective öffnete die Packung, die er eben erst aus dem Automaten herausgezogen hatte. Schritte näherten sich, und dann hörte er, wie sich ein Mann räusperte.

»Der Inspector möchte Sie sprechen.«

»Verdammt, nie komme ich dazu, diese Kekse zu essen.«

»Ich glaube, Sie werden noch Zeit genug haben. So wie der Inspector Ihren Namen gesagt hat, könnten Sie vielleicht sogar jede Menge Zeit haben.«

Bettinger betrachtete Big Tom, dessen Spitzname sich mehr auf seinen beeindruckenden Bauch als auf seine Größe bezog, die eher der einer Chinesin entsprach. Erst jetzt fiel dem Detective auf, wie sehr der Kopf des Büroleiters einer Zwiebel ähnelte.

»Der Inspector ist sauer?«, fragte Bettinger eher neugierig als besorgt.

»In dem Moment, als er nach Ihnen verlangt hat, gab es einen Donnerschlag.« Der Büroleiter deutete zum Fenster. »Aber der Himmel sieht ziemlich wolkenlos aus.«

Gemeinsam gingen die Männer den Flur entlang und betraten das Großraumbüro, wo ein Dutzend Polizisten Bettinger anstarrte. Als er die Zimtkekse in seiner Jacke verschwinden ließ, senkte sich ein Gefühl der Schwere auf seine Schultern.

»Vielleicht werden Sie sogar Zeit haben, selbst Kekse zu backen«, bemerkte Big Tom. »Teig kneten, den Ofen im Auge behalten, Zuckerrohr ernten.«

»Ich habe versucht, dem Typen zu helfen.« Bettinger gab sich Mühe, ernst zu klingen. »Ehrlich.«

»Seien Sie nicht beleidigt, wenn ich Sie von meiner Liste der Notfallkontakte streiche.«

Kurz darauf standen sie vor Big Toms Schreibtisch, wo der einem Schwein nicht unähnliche Mann seinen Wanst auf einen Plastikstuhl hievte. Bettinger ging weiter zu einer Tür mit dem Schild INSPECTOR KERRY LADELL, ballte die Rechte zur Faust und klopfte.

»Bettinger?«

»Ja.«

»Kommen Sie rein.« Der Befehlston ließ nicht unbedingt Gutes erwarten.

Bettinger holte tief Luft, drehte den Knauf und öffnete die Tür zu einem Büro, in dem mehr an Fichten und Eichen herumstand als in manchem Wald. Inspector Ladell saß groß und finster hinter seinem Schreibtisch in einem braunen Ledersessel, die Lippen unter seinem silbernen Schnurrbart verächtlich geschürzt, und sah Bettinger an.

»Was zum Teufel haben Sie zu Robert Fellburn gesagt?«

Die Worte flogen Bettinger um die Ohren wie Kugeln, und im Großraumbüro wandten sich mehrere Köpfe in seine Richtung.

»Soll ich die Tür zumachen?«

»Beantworten Sie meine Frage, verdammt noch mal.«

Bettinger schloss die Tür.

»Setzen Sie sich ja nicht hin.«

»So ein Gespräch wird das also.«

»Fellburn kam hierher, weil er Hilfe brauchte. Er ging in Ihr Büro, kam wieder raus und brachte sich um.«

»Fellburn wurde von einer schwarzen Prostituierten ausgenommen, die halb so alt war wie er. Ich habe ihm die Situation erklärt und ihm einen Rat gegeben.«

»Welchen? ›Bringen Sie sich um‹?«

»Ich habe ihm gesagt, er soll das Geld abschreiben und die Sache vergessen.«

»Hat prima geklappt.« Der Inspector hob den Blick zur Decke.

Bettinger setzte sich auf den Stuhl, der ihm verwehrt worden war. »Weshalb gehen Sie so auf mich los? Er war ein Idiot.«

»Kennen Sie John Carlyle?«

Dem Detective zog sich der Magen zusammen. »Den Bürgermeister?«

»Bestimmt nicht den zweiten Basemann, der damals, 1932, während seines kurzen Gastspiels in der Major League 41-mal rausgeflogen ist.«

Bettinger wusste, dass dieses an sich schon unerfreuliche Gespräch noch deutlich unangenehmer werden würde.

Inspector Ladell steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund. »Ich habe hier einen stark vereinfachten Multiple-Choice-Test für Sie: Raten Sie mal, wer bis vor wenigen Monaten mit Bürgermeister Carlyles Schwester verheiratet war.« Der Chef lutschte an seinem Bonbon. »Antwort A: Der Mann, der sich hilfesuchend an dieses Revier gewandt hat, in Ihr Büro gegangen, wieder rausgekommen ist und sich umgebracht hat.«

»Scheiße.«

»Genau. Scheiße.« Inspector Ladell nickte. »Wenn Sie ihm etwas Nettes gesagt hätten, bräuchten wir jetzt vielleicht nicht so viele Schimpfwörter.«

»Was heißt das?«

»Nichts Gutes.« Der Chef schob das Bonbon im Mund hin und her. »Die wenigsten Politiker möchten mit Untreue oder Selbstmord oder Huren in Verbindung gebracht werden, und im Fall Fellburn haben wir es mit allen dreien zu tun.«

»Das gibt Stunk.«

»Als der Bürgermeister das mitbekommen hat, hat er sich direkt an den Police Commissioner gewandt.« Inspector Ladell ließ das Bonbon gegen einen Zahn schnalzen. Es klang, als würde er den Hahn einer Waffe spannen. »Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit und stellen Sie sich den Tenor dieses Gesprächs vor.«

Bettinger war sofort alles klar. »Was haben Sie mit mir vor?«

»Haben Sie die hier gesehen?« Der Chef schlug einen Katalog auf und legte ihn Bettinger hin. Er zeigte auf das Hochglanzfoto einer Frau, die eine kugelsichere Weste trug und viel zu hübsch war, um Polizistin zu sein. »Eine gute Weste rettet Leben«, sagte der Inspector und blätterte weiter zu einer eselsohrigen Seite, auf der ein kräftiger Mann ein poliertes Sturmgewehr in den sorgfältig manikürten Händen hielt. »Und Waffen, die keine Ladehemmung haben, sind sehr hilfreich, wenn einen jemand umbringen will.«

Inspector Ladell schlug den Katalog zu, beugte sich vor und ließ ihn in einen Abfalleimer fallen.

»Wegen Ihnen«, fuhr er fort, »haben wir das alles verloren. Ausrüstung, für die ich mich schon eingesetzt habe, als schwarze Präsidenten noch reine Science-Fiction waren. Und – man mag es kaum glauben – das ist noch nicht mal das Schlimmste. Commissioner Jeffrey ist sich nicht mal mehr sicher, ob der Bürgermeister unserem neuen Beihilfepaket zustimmen wird.«

»Scheiße im Quadrat«, entfuhr es Bettinger.

Inspector Ladell lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. »Der Commissioner und ich haben uns unterhalten. Er meint, der Bürgermeister wüsste es zu schätzen, wenn wir einen gewissen Detective loswerden könnten.« Er zerbiss das Bonbon und schluckte die Splitter hinunter. »Ich hätte da noch so eine Frage mit nur einer Antwortmöglichkeit für Sie.«

Bettinger schwieg.

»Besteht die geringste Chance, dass Sie einfach irgendwohin verschwinden?«

»Per Teleportation?«

Inspector Ladell nickte. »So was in der Richtung.«

»Habe nie gelernt, wie das geht.«

»Irgendwas, wovon Sie eine Überdosis schlucken könnten? Nimmt Ihre Frau irgendwelche Medikamente?«

»Nein. Sie ist kerngesund.«

»Schade.«

Bettinger brauchte eine vernünftige Antwort. »Heißt das, ich bin gefeuert?«

»Ich habe rumtelefoniert. Habe gesagt, ich hätte einen Bluthund, der echt gute Arbeit leistet, aber auf einen unbezahlbaren Teppich geschissen hat und nicht mehr im Haus bleiben kann.« Inspector Lodell zog eine Schublade auf. »Kennen Sie Missouri?«

Dem fünfzigjährigen Detective lief ein Schauder über den Rücken. Er hasste Kälte und hielt Leute, die freiwillig in solchen Gegenden lebten, für Außerirdische. Widerstrebend antwortete er: »Das ist ein Landstrich, nicht wahr?«

»Ist vor einiger Zeit als Bundesstaat anerkannt worden. Im Nordosten liegt eine Stadt namens Victory. Schon mal von ihr gehört?«

»Muss man die kennen?«

»Teil des Rust Belt. Hatte eine Zukunft, damals, als Asiaten noch Orientalen hießen.« Der Chef gab dem Aktendeckel, den er vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte, einen Schubs. Er glitt auf Bettinger zu und blieb so über der Tischkante liegen, dass er wie ein Sprungbrett aussah. »Wenn Sie in Missouri eine Toilettenspülung betätigen, fließt der Dreck nach Victory.«

Bettinger schlug den Hefter auf und überflog das Deckblatt. Die Zahl der Entführungen, Morde und Vergewaltigungen in Victory war alarmierend hoch. Die Stadt sah aus wie Treibgut aus der dritten Welt, das irgendwie mitten in Amerika gelandet war.

»Die strukturieren gerade um«, versicherte ihm Inspector Ladell, »und brauchen einen Detective. Wenn Sie wechseln, nehmen wir die Suspendierung zurück.«

»Ich bin suspendiert?«

»Habe ich Ihnen das nicht gesagt?« Inspector Ladell zuckte mit den Schultern. »Ich muss entweder Ihnen oder der Abteilung wehtun. Ich will gar nicht erst so tun, als wäre das für mich ein Dilemma. Sie sind ein Arschloch. Ich versuche, Ihnen etwas anderes zu vermitteln, weil Sie Talent haben. Gehen Sie nach Victory. Beenden Sie dort Ihre Karriere. In vier Jahren können Sie in Rente gehen, hierher zurückkehren und das Haus des Bürgermeisters mit Eiern bewerfen.«

»Fünf Jahre.« Bettinger betrachtete das Foto eines Ghettos, das Ähnlichkeit mit Nagasaki nach der Bombe hatte, bevölkert von den schwarzen Überlebenden eines Konzentrationslagers.

»Vielleicht können Sie irgendwann eine Versetzung durchbekommen, ich bezweifle es allerdings. Die sind da oben verzweifelt auf der Suche nach Detectives.«

Bettinger dachte an seine Frau und seine Kinder. Er rieb sich die Schläfen und sah seinen Chef an, der die langen Finger zu einem Zelt gefaltet hatte.

»So ein Scheiß.«

»Ja«, erwiderte Inspector Ladell. »Und Sie haben ihn sich redlich verdient.«

IV
Vollgekleckst

Der Detective ging mit einem Karton voller Kleidung und kriminaltechnischer Bücher durch die Drehtür zum Parkplatz. Auf dem Weg zu seinem dunkelgrünen Wagen fiel ihm ein weggeworfener Flachmann ins Auge.

»Bettinger.«

Der Detective drehte sich um und sah in das besorgte faltige Gesicht von Silverberg, einem Mann, der sein Leben einmal und dessen Leben er zweimal gerettet hatte.

»Das ist nicht gerecht«, sagte sein jüdischer Kollege. »Wenn sich ein Bürger das Gehirn wegblasen will, lass ihn. Ich finde das okay. Darwin fände das auch.«

Bettinger zuckte mit den Schultern und ging weiter Richtung Wagen, begleitet von seinem Kollegen.

»Wo willst du hin?«

»Nach Hause.«

»Ruf mich an, wenn du einen trinken gehen willst. Oder auf den Schießstand. Oder auf dem Schießstand einen trinken.«

Bettinger schloss die Beifahrertür auf und setzte den Karton ab.

»Alles in Ordnung?«, fragte Silverberg.

»Alles bestens.« Bettinger schlug die Tür zu und ging um den Wagen herum zur Fahrerseite.

»Du hast immer noch was bei mir gut.«

»Wir sind quitt.«

»Sind wir nicht. Egal was, egal wann, egal wo. Du kannst dich jederzeit bei mir melden.«

Bettinger nickte, riss die Tür auf und wuchtete sich auf das warme Polster. Nachdem er den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hatte, richtete er den Blick auf Silverberg, einen seiner wenigen Freunde im Polizeirevier. »Pass auf dich auf.«

»Egal was, egal wann, egal wo.«

Bettinger schlug die Tür zu, legte den Gang ein und fuhr vom Parkplatz des Gebäudes, in dem er achtzehn Jahre lang gearbeitet hatte.

 

Und dann war Bettinger auf einmal zu Hause. Er konnte sich nicht an die Fahrt erinnern, auch nicht an irgendwelche Einzelheiten wie Anhalten oder Abbiegen, aber als er durch die Windschutzscheibe sah, stellte er fest, dass er irgendwie nach Hause gekommen war.

Langsam fuhr er die Auffahrt zu dem beigefarbenen Fünf-Zimmer-Haus hinauf, in dem seine Frau und er seit der Geburt ihres ersten Kinds lebten. Die Fassade wurde immer größer, bis sie sein Gesichtsfeld komplett ausfüllte.

Beide Kinder waren noch in der Schule, und Bettinger war klar, dass er mit seiner Frau sprechen sollte, bevor sie nach Hause kamen. Er stellte den Motor ab. Die plötzliche Stille war schlimmer als Kopfschmerzen.

Schließlich ging Bettinger auf sein Haus zu, in der Hand den Schlüssel, nicht aber den Karton, den er aus dem Büro mitgebracht hatte. Er stieg die drei Steinstufen hoch und schloss die Tür auf. Dann trat er in das klimatisierte Wohnzimmer.

»Jules?«

»Ich bin's.«

Im Studio waren leise Schritte zu hören, und Bettinger drehte sich um. Seine Frau, Alyssa Bright, kam auf ihn zugeeilt. Sie war eine Schwarze mit karamellfarbenem Teint, ausgeprägten Grübchen, großen Augen, einer kleinen Nase und Haaren, die ein Strauß wuchernder halblanger Kräusel waren. Ihre zerrissene Jeans war mit königsblauer Farbe beschmiert, genau wie die Fingerspitzen ihrer linken Hand, ihr T-Shirt von der Sierra University und ihr spitzes Kinn, über das sie sich offensichtlich beim Betrachten ihrer Kunst gestrichen hatte.

»Alles okay?«, fragte sie mit einem Blick auf die Uhr an der Wand.

»Ich bin wegen so einem blöden Schwachsinn suspendiert worden, und das lässt sich nur ändern, wenn ich freiwillig nach Missouri gehe.«

Alyssa war sprachlos.

Nach einem Moment ging sie zu ihrem Mann und nahm seine Hände in ihre. »Ist das unumstößlich?«

»Ja. Der Name der Stadt lautet Victory.« Bettinger schnaubte. »Stell dir den schlimmsten Slum vor, in dem du je warst, scheiß ihn vierzig Jahre zu, und du hast annähernd eine Vorstellung.«

Alyssa ließ sich die tausend Pfund schweren Informationen, die ihr Mann gerade ins Haus getragen hatte, durch den Kopf gehen. »Ich habe als Kind einige Zeit in Missouri verbracht«, sagte sie ohne eine Spur von Begeisterung.

Der Detective sah seiner Frau in die Augen. »Wir tun, was du willst und was du für das Beste für die Kinder hältst.«

»Danke, dass du das sagst.« Alyssa drückte seine Hände. »Gibt es in der Nähe von Victory eine erträgliche Stadt? Irgendeinen sicheren Ort, an dem wir leben könnten?«

»Stonesburg. Zweiundachtzig Meilen entfernt.«

»Mit Autobahnverbindung nach Victory?«

»Ja.«

»Geschwindigkeitsbeschränkungen?«

»Unterschiedlich, aber meistens fünfundsechzig.«

»Also bräuchtest du pro Strecke neunzig Minuten?«

»Ungefähr.«

Alyssa rieb sich das Kinn, genau an der Stelle, auf die sie vorher die blaue Farbe gekleckst hatte. »Schauen wir uns Stonesburg mal im Internet an.«

»Wenn du möchtest.«

»Ich bin nicht festgewachsen. Karen mag ihre neue Schule nicht, und Gordon würden ein paar bessere Freunde nicht schaden.« Sie deutete auf das Büro. »Lass uns herausfinden, was für Möglichkeiten wir haben.«

Bettinger war überzeugt, die liebenswerteste und pragmatischste Frau der Welt geheiratet zu haben. Er gab ihr einen Kuss und schlang den Arm um ihre gut zehn Zentimeter niedrigeren Schultern.

Gemeinsam betraten sie das Büro.

Alyssa knipste die Stehlampe an, deren Licht auf den Schreibtisch und den darauf stehenden Computer fiel. »Du bist so überempfindlich gegen Kälte«, sagte sie zu ihrem Mann. »Du wirst mehrere Schichten anziehen müssen. Lange Unterhosen und Unterhemden. Handschuhe und Pullover.« Sie schaltete den Computer ein. »Dicke Socken. Ohrenschützer.«

»Ich hasse es jetzt schon.«

Der Computer begann zu surren, und für Bettinger klang es wie ein Schneesturm.