Titel

Samanta Schweblin

Hundert Augen

Aus dem Spanischen von Marianne Gareis

Suhrkamp Verlag

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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Kentukis bei Literatura Random House, Barcelona.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2020

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5250.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagabbildung: Shutterstock, Berlin

eISBN 978-3-518-75379-8

www.suhrkamp.de

Motto

Vor dem Einschalten des Geräts bitte

darauf achten, dass alle Männer

ihre gefährlichen Körperteile schützen.

Sicherheitshandbuch

JCB Baggerlader, 2016

 

Erzählen Sie uns von den anderen Welten,

draußen bei den Sternen,

und den anderen Wesen,

die auf den Sternen wohnen?

Die linke Hand der Dunkelheit

URSULA K. LE GUIN

Hundert Augen

Als Erstes zeigten sie ihre Titten. Sie setzten sich zu dritt auf den Bettrand vor die Kamera, zogen die T-Shirts und dann, eine nach der anderen, die BHs aus. Robin hatte fast nichts zum Vorzeigen, machte aber trotzdem mit, wobei sie mehr auf Katias und Amys Blicke als auf das Spiel achtete. Wenn du in South Bend überleben willst, musst du dich mit den Starken anfreunden, hatten ihr die beiden mal gesagt.

Die Kamera befand sich hinter den Augen des Plüschtiers, und manchmal rollte es auf den drei Rädern, die sich unter seiner Basis verbargen, vorwärts oder rückwärts. Gesteuert wurde es von irgendwo anders, sie wussten nicht, von wem. Es hatte das Aussehen eines simplen, schlecht gemachten Pandabären, wirkte aber eher wie ein Rugbyball, dem man eine Spitze abgeschnitten hatte, damit er stehen kann. Wer immer auf der anderen Seite der Kamera saß, versuchte, ihren Bewegungen zu folgen, um nichts zu verpassen. Also stellte Amy den Panda auf einen Hocker, damit ihre Titten auf seiner Höhe waren. Das Plüschtier war Robins, aber alles, was Robin gehörte, gehörte auch Katia und Amy: Diesen Blutpakt hatten sie am Freitag geschlossen, und er sollte sie für den Rest ihres Lebens verbinden. Nun musste jede ihre kleine Nummer vorführen, und sie zogen sich wieder an.

Amy stellte das Plüschtier zurück auf den Boden, nahm den Eimer, den sie sich selbst aus der Küche geholt hatte, stülpte ihn über den Bären und verdeckte ihn dadurch ganz. Der Eimer wanderte hektisch und blindlings durchs Zimmer. Er stieß gegen Schulhefte, Schuhe und auf dem Boden verstreute Kleider, und das brachte das Plüschtier offensichtlich noch mehr in Rage. Als Amys Atem heftiger wurde und sie ein erregtes Stöhnen vortäuschte, blieb der Eimer stehen. Katia beteiligte sich an dem Spiel, und gemeinsam imitierten sie einen langen, heftigen und zeitgleichen Orgasmus.

»Das zählt aber nicht als deine Nummer«, warnte Amy Katia, als sie endlich aufhören konnten zu lachen.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Katia und stürmte aus dem Zimmer. »Macht euch bereit!«, brüllte sie aus dem Flur.

Robin war immer etwas unwohl bei diesen Spielen, obwohl sie Katias und Amys Coolness bewunderte, wie sie mit den Jungs redeten, wie sie es schafften, immer duftende Haare und perfekt angemalte Nägel zu haben. Wenn dabei gewisse Grenzen überschritten wurden, fragte Robin sich, ob die beiden sie vielleicht auf die Probe stellen wollten. Sie war dem Clan, wie die beiden ihre Gruppe nannten, zuletzt beigetreten, und sie musste sich sehr anstrengen, um mithalten zu können.

Katia kam mit ihrem Rucksack ins Zimmer zurück. Sie setzte sich vor den Eimer und befreite das Plüschtier.

»Pass auf«, sagte sie in die Kamera, und die Augen des Plüschtiers folgten ihr.

Robin fragte sich, ob der Mensch dahinter sie wohl verstehen konnte. Er schien sie ganz genau zu hören, und sie sprachen Englisch, was ja jeder spricht. Vielleicht war die Tatsache, dass sie Englisch sprach, der einzige Vorteil, in einer so schrecklich langweiligen Stadt wie South Bend zur Welt gekommen zu sein, trotzdem konnten sie es hier immer noch mit einem Ausländer zu tun haben, der nicht mal nach der Uhrzeit fragen konnte.

Katia machte ihren Rucksack auf und holte ein Album mit Fotos von ihrem Sportverein heraus. Amy klatschte in die Hände und rief:

»Hast du die kleine Nutte mitgebracht? Willst du sie ihm zeigen?«

Katia nickte. Sie blätterte in dem Album und suchte, die Zungenspitze zwischen den Zähnen, verzweifelt nach dem Mädchen. Als sie sie gefunden hatte, klappte sie das Album ganz auf und hielt es dem Plüschtier hin. Robin beugte sich vor, um etwas zu sehen. Es war Susan, das merkwürdige Mädchen aus dem Biologiekurs, das der Clan zum Spaß mobbte.

»Sie wird ›Tropfarsch‹ genannt«, sagte Katia und schürzte ein paarmal die Lippen, wie immer, wenn sie, wie der Clan es verlangte, etwas besonders Übles ausheckte. »Ich zeige dir, wie du Geld mit ihr machen kannst«, sprach Katia in die Kamera. »Robin, Süße, hältst du mal kurz das Buch, während ich dem Herrn seine Aufgabe erkläre?«

Robin trat zu ihr und hielt das Buch vor die Kamera. Amy schaute sich das neugierig an, sie hatte keine Ahnung von Katias Drehbuch. Katia suchte in ihrem Handy, bis sie ein Video gefunden hatte, und hielt dann das Display vor das Plüschtier. In dem Video sah man, wie Susan sich Strumpfhose und Slip herunterzog. Das Ganze war anscheinend vom Boden der Schultoilette aus gefilmt worden, von hinterm Klo; vielleicht hatten sie die Kamera zwischen Abfalleimer und Wand gestellt. Man hörte ein paar Pupse, und die drei lachten schallend. Als Susan vor dem Spülen ihre Kacke betrachtete, brüllten die drei vor Vergnügen.

»Diese Schlampe ist steinreich«, sagte Katia. »Die Hälfte für dich, die andere Hälfte für uns. Unser Clan kann sie nämlich nicht länger erpressen, weil die Schulleitung uns im Blick hat.«

Robin wusste nicht, wovon Katia sprach, und es war nicht das erste Mal, dass der Clan sie in seine illegaleren Aktivitäten nicht einbezogen hatte. Bald wäre Katia mit ihrer Nummer fertig und sie an der Reihe, aber sie hatte noch keine Idee. Ihre Hände waren schwitzig. Katia holte ihr Heft und einen Bleistift aus dem Rucksack und notierte etwas.

»Hier sind der volle Name, Telefonnummer, E-Mail- und die Postadresse von Tropfarsch«, sagte sie und legte das Papier neben das Foto.

»Und wie soll der junge Mann uns das Geld zukommen lassen?«, fragte Amy Katia und zwinkerte dem vermeintlichen Herrn über die Kamera zu. Katia wurde unsicher. »Wir wissen ja nicht, wer verdammt noch mal dieser Typ ist«, sagte Amy, »und nur deswegen zeigen wir ihm ja auch unsere Titten, oder?«

Katia blickte wie hilfesuchend zu Robin. In diesen kurzen Momenten, wenn Katia und Amy sich in den heikelsten Punkten nicht einig waren, wurde sie plötzlich wichtig.

»Wie soll der Herr uns denn seine E-Mail-Adresse geben, hä?«, spottete Amy weiter.

»Ich weiß, wie«, sagte Robin.

Die beiden sahen sie überrascht an.

Das wird meine Nummer, dachte Robin, damit zieh ich meinen Kopf aus der Schlinge. Der Pandabär wandte sich ebenfalls ihr zu, wollte wohl wissen, was nun passierte. Robin legte das Album weg, ging an ihren Schrank und wühlte in den Schubladen. Sie kam mit einem Ouija-Brett wieder und klappte es auf dem Boden auf.

»Komm hier drauf«, sagte sie.

Und das Plüschtier stieg darauf. Die drei Plastikräder unter der Basis fanden problemlos Halt auf der dicken Pappe, und schon war der Panda auf dem Brett. Er bewegte sich über das Alphabet, als würde er es untersuchen. Sein Körper nahm zwar mehr als einen Buchstaben ein, aber man würde dennoch sofort verstehen, welcher Buchstabe gemeint war. Das Plüschtier stellte sich unter die halbkreisförmig angeordneten Buchstaben und blieb dort stehen. Offensichtlich wusste es ganz genau, wie man ein Ouija-Brett benutzte. Robin fragte sich, was sie machen würde, wenn die Mädchen weg wären und sie wieder allein mit dem Plüschtier wäre, jetzt, da sie ihm ihre Titten und eine Möglichkeit, mit ihr zu kommunizieren, gezeigt hatte.

»Genial«, sagte Amy.

Robin musste unwillkürlich grinsen.

»Welche von uns dreien hat für dich die besten Titten?«, fragte Katia.

Das Plüschtier sprang zwischen den Buchstaben des Bretts hin und her.

D I E B L O N D E

Katia lächelte stolz, vielleicht weil sie wusste, dass er recht hatte.

Warum war ihr der Trick mit dem Brett nicht früher eingefallen, fragte sich Robin. Sie hatte das Plüschtier seit über einer Woche im Zimmer, es war hin und her gerollt. Sie hätte sich ganz ruhig mit ihm unterhalten können, vielleicht steckte ja jemand Besonderes dahinter, ein Junge, in den sie sich hätte verlieben können, aber jetzt setzte sie alles aufs Spiel.

»Nimmst du den Deal mit Tropfarsch an?«, fragte Katia und zeigte ihm noch mal das Foto von Susan.

Das Plüschtier bewegte sich und schrieb etwas.

N U T T E N

Robin runzelte die Stirn, sie war gekränkt, auch wenn es vielleicht für ihr Plüschtier sprach, dass es sie beleidigte: Sie wusste, was sie da gerade taten, war nicht korrekt. Katia und Amy sahen sich an und lachten stolz, dann streckten sie ihm die Zunge raus.

»Wie ordinär«, sagte Amy. »Mal sehen, was der Herr uns sonst noch zu sagen hat.«

»Was sind wir denn sonst so, du kleiner Tröster?«, ermunterte Katia ihn und warf ihm mit sinnlicher Pose Kusshändchen zu. »Was hättest du denn gern, was wir sind?«

D I E K O H L E

Man musste sich sehr konzentrieren, um ihm zu folgen.

W E R D E T I H R M I R G E B E N

Die drei tauschten Blicke.

T I T T E N A U F G E N O M M E N 4 0 0 X 6 T I T T E N M A C H T 2 4 0 0 D O L L A R

Amy und Katia sahen sich ein paar Sekunden lang an und lachten dann los. Robin klammerte sich an ihr T-Shirt, knüllte den Stoff und versuchte zu lächeln.

»Und von wem willst du das Geld kriegen?«, fragte Amy und machte Anstalten, ihr T-Shirt wieder hochzuziehen.

S O N S T T I T T E N P E R M A I L A N S U S A N

Da wurden Amy und Katia zum ersten Mal ernst. Robin konnte sich für keine Seite entscheiden, vielleicht war ihr Plüschtier ja ein Gerechtigkeitsfanatiker.

»Zeig doch, was du willst«, sagte Amy, »wir haben die besten Titten der Stadt. Dafür brauchen wir uns nicht zu schämen.«

Robin wusste, dass sie damit nicht gemeint war. Amy und Katia klatschten sich ab. Da begann das Plüschtier auf dem Brett zu tanzen, schrieb unaufhörlich neue Wörter, die Robin so schnell kaum lesen konnte.

H A B E V I D E O S M U T T E R R O B I N B E I M K A C K E N U N D S C H W E S T E R R O B I N B E I M M A S T U R B I E R E N 6 X

Sie mussten ihm einfach Buchstabe für Buchstabe folgen, konnten nicht wegschauen.

W I E V A T E R S A C H E N S A G T Z U M Ä D C H E N V O M P U T Z E N

Amy und Katia folgten fasziniert dem Tanz auf dem Brett und warteten geduldig auf jede neue Demütigung.

W I E R O B I N N A C K T U N D R O B I N S C H L E C H T R E D E T V O N A M Y A M T E L E F O N

Amy und Katia sahen sich an. Dann sahen sie Robin an, sie lächelten nicht mehr.

W I E R O B I N S P I E L T A M Y U N D K A T I A U N D S I E K Ü S S T

Das Plüschtier schrieb weiter, doch Amy und Katia lasen nicht mehr mit. Sie standen auf, packten ihre Sachen zusammen und verließen türenknallend das Zimmer.

Zitternd versuchte Robin herauszufinden, wo man dieses verdammte Gerät abschaltete, während das Plüschtier immer noch auf dem Brett hin und her sprang. Es gab keinen Schalter, das war ihr zuvor schon mal aufgefallen, und in ihrer Verzweiflung kam ihr keine andere Idee, als es zu packen und mit der Spitze einer Schere zu versuchen, seine Basis zu öffnen. Das Plüschtier bewegte die Räder und versuchte zu entwischen, aber es brachte sowieso nichts. Robin fand keine Ritze, wo sie die Schere hätte ansetzen und das Teil aufbrechen können. Also stellte sie es wieder auf dem Boden ab, und es kehrte direkt zu dem Brett zurück. Sie stieß es mit einem Fußtritt herunter. Das Plüschtier quiekte, und Robin schrie auf, denn sie hatte gar nicht gewusst, dass das Gerät auch quieken konnte. Sie nahm das Brett und schleuderte es in die Ecke. Dann schloss sie die Tür ab und verfolgte das Plüschtier mit dem Eimer, als wollte sie eine Riesenspinne einfangen. Sie schaffte es, ihm den Eimer überzustülpen und sich daraufzusetzen. Einen Augenblick lang blieb sie so sitzen, klammerte sich an den Eimer und hielt jedes Mal, wenn das Plüschtier gegen das Plastik stieß, die Luft an, um nicht loszuheulen.

Als ihre Mutter sie zum Abendessen rief, brüllte sie, es gehe ihr nicht gut und sie wolle ohne Essen ins Bett. Sie stellte die große Holztruhe, in der sie ihre Aufzeichnungen und Schulbücher aufbewahrte, auf den Eimer und machte ihn dadurch unbeweglich. Irgendjemand hatte ihr gesagt, wenn man das Gerät ausschalten wolle, es aber nicht kaputtbekam, bleibe als einzige Möglichkeit, zu warten, bis der Akku leer war. Also setzte sie sich aufs Bett, umklammerte ihr Kopfkissen und wartete. Gefangen in dem Eimer, quiekte das Plüschtier noch Stunden weiter, klatschte immer wieder dagegen, wie eine riesige Fleischfliege, bis es am frühen Morgen schließlich still wurde in dem Zimmer.

Auf dem Bildschirm erschien ein Kästchen. Man sollte die Seriennummer eingeben. Emilia seufzte und setzte sich in ihrem Korbstuhl zurecht. Solche Aufforderungen waren das Schlimmste für sie. Zum Glück war ihr Sohn nicht da, trieb sie nicht wortlos an, während sie nach ihrer Brille suchte, um sich die Anleitung noch einmal durchzulesen. Sie saß an dem Schreibtisch im Flur und richtete sich auf, damit ihr Rücken weniger schmerzte. Dann atmete sie tief durch und gab, jede Ziffer einzeln prüfend, den Zahlencode von der Karte ein. Sie wusste, ihr Sohn hatte gar keine Zeit für solche Kinkerlitzchen, und doch stellte sie sich vor, wie er sie über eine im Flur versteckte Kamera beobachtete und in seinem Büro in Hongkong genervt war von ihrer mangelnden Effizienz, so wie auch ihr Mann – würde er noch leben – genervt gewesen wäre. Das letzte Geschenk ihres Sohnes hatte sie verkauft und von dem Geld die ausstehenden Betriebskosten bezahlt. Sie verstand zwar nicht viel von Uhren und auch nicht von Designerhandtaschen oder Turnschuhen, aber sie hatte genügend Lebenserfahrung, um zu wissen, dass alles, was in mehr als zwei Lagen Zellophanpapier verpackt war, was in Samtschächtelchen geliefert und nur gegen Ausweis und Unterschrift ausgehändigt wurde, wertvoll war und dass man damit die Schulden einer Rentnerin begleichen konnte. Und es zeigte auch sehr deutlich, wie wenig ihr Sohn über seine Mutter wusste. Den Sohn hatte man ihr genommen, kaum dass er neunzehn war, nun war er der verlorene Sohn, sie hatten ihn mit einem obszönen Gehalt verführt und dann dorthin versetzt. Niemand würde ihn ihr wieder zurückbringen, und Emilia wusste noch immer nicht, wem sie dafür die Schuld geben sollte.

Der Bildschirm blinkte erneut. »Seriennummer akzeptiert«. Ihr Computer war nicht das neueste Modell, doch für ihre Zwecke reichte er. Die zweite Nachricht lautete »Kentuki-Verbindung hergestellt«, und gleich darauf öffnete sich ein neues Programm. Emilia runzelte die Stirn. Wozu waren diese Meldungen eigentlich gut, wenn man sie nicht mal verstand? Sie nervten sie nur, und fast immer betrafen sie Geräte, die ihr Sohn ihr geschickt hatte. Warum wertvolle Zeit damit vergeuden, Apparate zu begreifen, die man nie wieder benutzen würde? Das fragte sie sich jedes Mal. Sie sah auf die Uhr. Es war gleich sechs. Der Junge würde anrufen und fragen, wie ihr das Geschenk gefallen habe, also konzentrierte sie sich ein letztes Mal. Auf dem Bildschirm waren nun Steuertasten zu sehen, wie die auf dem Handy ihres Sohnes, wenn sie damit Schiffe versenken gespielt hatte, bevor diese Leute aus Hongkong ihn ihr wegnahmen. Über den Steuertasten wurde die Option »aufwecken« angezeigt. Emilia wählte sie aus. Ein Videofenster nahm nun einen Großteil des Bildschirms ein, und die Steuertasten befanden sich jetzt an den Rändern und waren nur noch kleine Symbole. In dem Video sah Emilia ein Esszimmer. Sie fragte sich, ob es vielleicht das ihres Sohnes war, aber es war überhaupt nicht sein Stil, und die Wohnung des Jungen wäre auch niemals so unordentlich und so voll mit Sachen. Auf dem Tisch, unter ein paar Bierflaschen, Tassen und schmutzigen Tellern, lagen Zeitschriften. Dahinter die offene Küche, im selben Zustand.

Man hörte ein Murmeln, es war wie ein Gesang, und Emilia ging dichter an den Bildschirm ran, weil sie etwas verstehen wollte. Die Lautsprecher waren alt, und sie knisterten. Das Geräusch kam wieder, und sie erkannte, dass es in Wirklichkeit eine Frauenstimme war: Emilia wurde in einer anderen Sprache angesprochen und verstand kein Wort. Englisch konnte sie verstehen – wenn langsam gesprochen wurde –, aber das klang überhaupt nicht nach Englisch. Dann erschien jemand auf dem Bildschirm, es war eine junge Frau mit feuchten blonden Haaren. Die Frau sagte wieder etwas, und das Programm fragte sie in einem anderen Kästchen, ob es den Übersetzer aktivieren sollte. Emilia stimmte zu, wählte ihre Sprache, und als die junge Frau wieder etwas zu ihr sagte, wurden Untertitel eingeblendet:

»Hörst du mich? Siehst du mich?«

Emilia lächelte. Sie sah, wie die Frau auf dem Bildschirm noch näher kam. Sie hatte himmelblaue Augen, einen Ring in der Nase, der ihr überhaupt nicht stand, und einen konzentrierten Gesichtsausdruck, als wüsste sie selbst auch nicht so genau, was da gerade passierte.

»Yes«, sagte Emilia.

Mehr traute sie sich nicht zu sagen. Das ist ja ein bisschen wie skypen, dachte sie. Sie fragte sich, ob ihr Sohn diese Frau wohl kannte, und betete, dass es nicht seine neue Freundin wäre, denn in der Regel verstand sie sich mit sehr dekolletierten Frauen nicht besonders, und das war kein Vorurteil, sondern ihre Erfahrung aus vierundsechzig Jahren.

»Hallo«, sagte sie, nur um bestätigt zu bekommen, dass die Frau sie nicht hörte.

Die junge Frau schlug eine kleine Bedienungsanleitung auf, hielt sie sich dicht vor die Augen und las eine Weile. Vielleicht trug sie ja sonst eine Brille, und es war ihr peinlich, sie vor der Kamera aufzusetzen. Emilia verstand noch nicht, was das alles bedeutete, aber sie war nun zugegebenermaßen neugierig geworden. Die junge Frau las, nickte und spähte immer wieder über den Rand der Anleitung. Schließlich schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie ließ sie sinken und sprach in ihrer unverständlichen Sprache. Das Übersetzungsprogramm schrieb auf dem Bildschirm:

»Schließ die Augen.«

Der Befehl überraschte sie. Emilia setzte sich aufrecht hin, schloss kurz die Augen und zählte bis zehn. Als sie sie wieder aufmachte, sah die junge Frau sie immer noch an, als wartete sie auf irgendeine Reaktion. Da entdeckte Emilia auf dem Bildschirm über den Steuertasten eine neue Option, die einladend »schlafen« anbot. Reagierte das Programm etwa auf einen akustischen Sensor? Emilia wählte die Option, und der Bildschirm wurde dunkel. Sie hörte, wie die junge Frau jubelte und klatschte und dann wieder etwas sagte. Der Übersetzer schrieb.

»Mach sie auf! Mach sie auf!«

Über den Steuertasten wurde ihr eine neue Option angezeigt: aufwecken. Als Emilia sie wählte, schaltete sich das Video wieder ein. Das Mädchen lächelte in die Kamera. Das ist vielleicht ein Blödsinn, dachte Emilia, aber sie musste zugeben, es hatte seinen Reiz. Irgendwie war es spannend, aber sie wusste noch nicht genau, weshalb. Sie wählte »vorwärts«, und die Kamera bewegte sich circa zehn Zentimeter auf die junge Frau zu, die amüsiert lächelte. Emilia sah, wie sie langsam, ganz langsam mit ihrem Zeigefinger näherkam, bis sie fast den Bildschirm berührte, und dann hörte sie sie wieder etwas sprechen.

»Ich berühre deine Nase.«

Die Buchstaben des Übersetzers waren groß und gelb, sie konnte sie gut lesen. Emilia drückte auf »rückwärts«, und die junge Frau wiederholte die Handbewegung, sichtlich verwirrt. Es war eindeutig, dass es für sie auch das erste Mal war und sie es ihr nicht übelnahm, dass sie so wenig wusste. Gemeinsam machten sie diese ersten, verblüffenden Erfahrungen, und das gefiel Emilia. Sie drückte wieder auf »rückwärts«, die Kamera entfernte sich, und die junge Frau klatschte.

»Warte«, sagte sie.

Emilia wartete. Das Mädchen ging weg, und Emilia nutzte die Zeit, um die Option »links« zu wählen. Die Kamera machte einen Schwenk, und Emilia sah noch deutlicher, wie klein die Wohnung war: ein Sofa und eine Tür zum Flur. Die junge Frau sprach wieder, sie war nicht mehr im Bild, doch der Übersetzer transkribierte es trotzdem:

»Das hier bist du.«

Emilia kehrte in ihre Ausgangsposition zurück, und da war die junge Frau wieder. Sie hielt eine circa vierzig Zentimeter lange Schachtel vor die Kamera. Sie war geöffnet, und auf dem Deckel stand »Kentuki«. Emilia begriff noch nicht, was sie da vor sich hatte. Die Vorderseite der Schachtel bestand fast gänzlich aus durchsichtigem Zellophan, und man konnte sehen, dass sie leer war. Auf den drei anderen Seiten war ein rosa-schwarzes Plüschtier abgebildet, von vorn, von hinten und im Profil. Es war ein rosa-schwarzes Kaninchen, das aber eher wie eine Wassermelone aussah. Es hatte große, vorstehende Augen und lange Ohren. Eine knochenförmige Haarspange hielt sie zusammen und ein paar Zentimeter lang aufrecht, bevor sie schlaff an den Seiten herabfielen.

»Du bist ein süßes kleines Kaninchen«, sagte die junge Frau. »Magst du Kaninchen?«